Eine neue Literaturgeschichte der Stadt geht der Frage nach, wie Köln sich zu der florierenden Literaturmetropole entwickeln konnte, die sie heute ist, aber sehr lange nicht war.
Kölner LiteraturgeschichteFrüher war nicht alles besser
Es gibt nicht viel, was den Barock-Dichter Friedrich Spee und die zeitgenössische Bestseller-Autorin Melanie Raabe verbindet – doch nun sind sie zwischen zwei Buchdeckeln vereint: In einer „Kölner Literaturgeschichte“, die der langjährige Kulturredakteur dieser Zeitung, Markus Schwering, geschrieben hat. „Von den Anfängen bis zur Gegenwart“ lautet der Untertitel und so finden sich auf knapp 500 Seiten tatsächlich die prägendsten Autoren dieser Stadt - später gesellen sich auch Autorinnen hinzu.
Dieses Buch ist aber mehr als ein bloßes „Who is who“ der lokalen Literaturszene durch die Jahrhunderte. Zwar stellt Schwering tatsächlich die Schreibenden und ihre Werke vor, analysiert auch detailliert einige Texte. Immer wieder weitet er aber den Blick auf das große Ganze. Auf die Stadt und die Frage, ob und wie dieses Umfeld die Literatur beeinflusst, zum Beispiel.
Bei den ersten erhaltenen literarischen Texten liegt die Antwort auf der Hand – denn im Mittelalter ging ohne die Kirche bekanntlich nicht viel. Und im tief-katholischen Köln schon mal gar nicht. So steht am Anfang der schriftlichen Überlieferungsgeschichte auch ein Lobgesang auf einen Kölner Bischof: Das Annolied.
Intellektueller Input fehlte
Doch so notwendig die Kirche in frühesten Zeiten für die Literaturproduktion war, so hinderlich erwies sie sich viel später für eine lebendige lokale Szene, schreibt Schwering. Vor allem, weil Köln sich als einzige große Reichsstadt im 16ten Jahrhundert nicht der Reformation öffnete. Weswegen „intellektueller Input“ fehlte, worauf Schwering die „die kaum zu beschönigende Dürftigkeit der Kölner Literaturproduktion in den folgenden Jahrhunderten“ unter anderem zurückführt.
Mit ihrer „aktiv betriebenen religiösen Intoleranz“ hätten katholische Institutionen noch Ende des 18. Jahrhunderts ein intellektuelles Klima in der Stadt behindert. Aber selbst als der „sozial-normative Druck“ der Kirche allmählich nachließ, blieb die Stadt weiter stark durch ihr katholisches Milieu geprägt. 78 Prozent aller Kölner und Kölnerinnen waren 1910 katholisch, so Schwering. Und noch in den 1970ern sagte der Autor Rolf Dieter Brinkmann in seiner unnachahmlichen Art über seinen Wohnort: „Ein mieses, verseuchtes, katholisch verpestetes Stückchen Erde in Westdeutschland“.
So hätte Heinrich Böll (dem Brinkmann übrigens Biederkeit attestierte) das sicher nicht formuliert. Aber auch den wahrscheinlich bekanntesten Kölner Autor prägte, so Schwering, „seine lebenslange, auch aktivistisch geprägte und persönlich schmerzhafte Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche.“
Überbordende Vielfalt
Kirchen- und Literaturgeschichte überschneiden sich in dieser Stadt also besonders stark. Ansonsten sucht man jedoch vergeblich den einen roten Faden, das verbindende Element der Kölner Literatur. Und so schreibt Schwering mit Blick auf die heutige Szene „dass die Einheit der aktuellen Kölner Literaturproduktion vor allem in ihrer überbordenden Vielfalt aufzusuchen ist“. Und auch schon der Szene der 1960er, 70er, 80er Jahre attestiert er ein „bemerkenswertes Maß an Diversität, ja extremen Unterschieden in den jeweiligen Literaturauffassungen, aber auch in den allgemeinen Lebenskonzepten und politischen Orientierungen“.
Mit dieser überbordenden Vielfalt muss auch eine Kölner Literaturgeschichte umgehen. Muss auswählen und gewichten. Das macht Schwering, in dem er sie möglichst breit abbildet. Er bietet einen chronologischen Überblick, widmet sich dabei aber immer wieder auch intensiver einzelnen Personen wie beispielsweise zur Wende des 19. Jahrhunderts dem Kunstsammler Ferdinand Franz Wallraf: „Wallrafs eigene dichterische Hinterlassenschaft dürfte kaum ausreichen, ihm einen unangefochtenen Platz in einer ‚Kölner Literaturgeschichte‘ zu sichern. Aber als Kommunikator, Förderer, Integrator war er über Jahrzehnte hinweg – vor, in und nach der Franzosenzeit – in seiner Heimatstadt außerordentlich einflussreich.“
Es gibt natürlich Namen, um die niemand beim Schreiben einer Literaturgeschichte dieser Stadt herumkommt: Irmgard Keun, Jürgen Becker, Dieter Wellershoff und natürlich Heinrich Böll. Doch dabei belässt es Markus Schwering nicht: Er widmet sich auch der Unterhaltungsliteratur und der Mundartdichtung von Willi Ostermann bis BAP und macht so die Vielfalt zu seinem eigenen Programm.
Dabei interessiert ihn vor allem eine Leitfrage: Wie Köln „ausgerechnet in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen nahezu spektakulären Take-off als Literaturstadt hinlegen konnte“ - nachdem die Lage in der Zeit davor meist ziemlich bescheiden war.
Denn als Literaturstadt kann man Köln heute ohne jeden beschönigenden Lokalpatriotismus bezeichnen. Und das trotz einer Delle um die Jahrtausendwende, als Berlin alles überstrahlte. Was also lief – jenseits des rigiden Katholizismus – so lange schief? Und wie hat die Stadt schließlich doch noch die Kurve gekriegt? „Das über lange Jahrhunderte hinweg unbestreitbar bescheidene literarische Profil der Domstadt“ schreibt Schwering, habe wohl auch mit dem mangelnden Interesse der Stadtgesellschaft zu tun. „Umgekehrt ist die eindrucksvolle Entwicklung der Kölner Literaturszene nach dem Zweiten Weltkrieg und seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts kaum denkbar ohne die Etablierung eines sukzessiv dichter geknüpften Netzes fördernder Institutionen“. Zentral war zum Beispiel der WDR (erst NWDR) - der wie ein Magnet auf freischaffende Literaten gewirkt habe.
Und das gilt natürlich auch für die literarischen Verlage. Markus Schwering zitiert Reinhold Neven Du Mont, Verlagsleiter von den 1960ern bis Anfang der Nuller Jahre: „Kiepenheuer & Witsch operierte in Köln zunächst in einer literaturpolitischen Wüste. Es gab keine lit.Cologne, keine 'Literatur in den Häusern’, kein Literaturhaus.“ Womit Neven Du Mont schon einige der wichtigsten Pfeiler für den späteren literarischen Aufschwung Kölns nennt. Wozu auch der „Heinrich Böll Preis für Literatur“ gehört, den die Stadt alle zwei Jahre an die Größen der deutschsprachigen Literatur vergibt. Außerdem unterstützt sie Autoren mit dem „Dieter-Wellershoff-Stipendium“ und vergibt ein „Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium“ für den Nachwuchs. Apropos Nachwuchs: Zwei Studiengänge an der Universität und der KHM bilden heute gezielt für das literarische Schreiben aus. „Früher war alles besser“ ist also definitiv nicht der Tenor dieser Literaturgeschichte – im Gegenteil!
Schwerings Buch bietet einen neuen und wichtigen Überblick. Wobei der Anspruch für ein sehr breites Publikum hoch ist. Und für Kenner der Szene geht es wiederum nicht immer genug in die Tiefe - zwangsläufig bei so viel Stoff auf so wenig Seiten. Trotzdem gibt es sehr intensive Einblicke: Zum Beispiel in das Verhältnis zwischen Heinrich Böll und Dieter Wellershoff, sowohl persönlich wie auch literarisch. Man spürt, dass hier jemand schreibt, der ganz nah an seinem Thema dran ist.
Und es gibt wohl wenige Autoren, die wie Markus Schwering den Spagat zwischen der Gegenwart und dem Mittelalter so locker und kenntnisreich meistern. Genauso wie den Spagat zwischen den verschiedensten literarischen Genres. Ob „kölsche Sproch“ oder Lyrik – Markus Schwering hat eine im besten Sinne inklusive Literaturgeschichte geschrieben, so vielfältig wie die Kölner Literaturszene selbst.
Kölner Literaturgeschichte: Von den Anfängen bis zur Gegenwart (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins e.V.), Böhlau Köln, 491 Seiten, 49 Euro.
Am Donnerstag, 16. Mai, um 19 Uhr stellt Markus Schwering mit dem Literaturkritiker Hajo Steinert und der Leiterin des Heinrich-Böll-Archiv und des Literatur-in-Köln-Archiv (LiK), Gabriele Ewenz, das Buch in der Kölner Zentralbibliothek am Josef-Haubrich-Hof 1 vor. Der Eintritt kostet 8 Euro, ermäßigt 6 oder 4 Euro.