Pablo Heras-Casado dirigierte die Eröffnung der sechsten Ausgabe des Originalklang-Festivals. Im Mittelpunkt: Musik aus Flandern und den Niederlanden.
Kölner PhilharmonieDas Felix-Festival eröffnet mit einer unruhigen Bruckner-Sinfonie
Nein, die Noten zeigen in diesen ersten Takten nichts Schummriges, mystisch Raunendes an: „Immer deutlich hervortretend“ schreibt Bruckner über die Stimme des F-Horns mit seiner berühmten Quinte und kleinen Sexte am Beginn der vierten Sinfonie. Das hört man bekanntlich oft anders, nicht so freilich bei Pablo Heras-Casado – da wird man beim Zuhören auf einmal an die Vortragsanweisung des Komponisten erinnert.
Mit der wohl beliebtesten Sinfonie des Meisters eröffnete die belgische Formation Anima Eterna Brugge unter Leitung des Spaniers, der mit ihr in den kommenden Jahren eine Bruckner-Totale ins Werk setzen will, in der Philharmonie die neue Ausgabe des Kölner „Felix!“-Originalklangfestivals, de facto das Startkonzert der Saison. Wie? Bruckner und Originalklang? Ja, ganz richtig, „Felix“ ist eben konzeptionell ausdrücklich kein Barockfestival. Tatsächlich ist der „Originalklang“, also das Spiel auf „period instruments“, inzwischen ja auch im 20. Jahrhundert angekommen. Anima eterna ist das beste Beispiel dafür – die Flamen sind unter ihrem legendären Gründer Jos van Immerseel mittlerweile bei Gershwin gelandet.
Bis vor kurzem fehlte Bruckner in romanischen Ländern auf der Agenda
Eher erstaunen mag da schon, wie inbrünstig sich der Romane Heras-Casado dem österreichischen Spätromantiker widmet – dass beide aus einer katholischen Lebenswelt kommen, reicht da als belastbarer Link kaum aus. Vielmehr ist es so, dass Bruckner bis vor kurzem in romanischen Ländern (auch in Frankreich) mehr oder weniger auf der Agenda fehlte.
Tönt der „neue“ Bruckner nun ganz anders als der, den man kennt? Nun ja, man wird sich wahrscheinlich umgewöhnen müssen. Der Grundklang ist jetzt – jedenfalls ausweislich der Kölner Erfahrung, möglicherweise gewähren Kollegen aus der historischen Aufführungspraxis ein abweichendes Hörerlebnis – relativ offen, ungedeckt, hell (und das, obwohl die Kontrabässe von der Podiumsrückwand nach vorne abstrahlten), zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Trennschärfe aus. Der – bislang als typisch deutsch-romantisch gehandelte – Mischklang wird da ein Stück weit aufgebrochen. Weil die ersten Violinen im Streichersatz nicht mehr dominieren, kommt die kontrapunktische Individualität der unteren Stimmen, kommen deren versetzte rhythmische Impulse plastisch heraus. Zugleich ist der Sound, ohne dass Heras-Casado am Pult schmerzhaft forcierte, „härter“ – man hört die Einschwingphasen der Bläser ganz genau, und dass das Leithorn mal „kiekst“ – jetzt ausgerechnet beim Reprisenbeginn im ersten Satz –, muss man wohl in Kauf nehmen.
Im Anschluss konnte man im Wallraf-Richartz-Museum weitermachen
Kein Sankt-Florian-Weihrauch also, aber auch keine Ländler-Idyllen, kein lyrisches Aussingen und Verweilen in den Seitenthemen. Immer „geschieht“ bei Heras-Casado etwas (unstrittig eindrucksvoll gerieten etwa die Raumklangeffekte im Scherzo), und nahezu zum Fetisch gerät sein hörbarer Vorsatz, die dramaturgische Bedeutung der Leitintervalle herauszustellen. Vielleicht aber geschieht da auch zu viel, die Musik gelangt selten zu jener Ruhe, zu jenen „Zeitausstiegen“, die eine charismatische Bruckner-Interpretation zu realisieren vermag. Und Klarheit und Deutlichkeit sind bei Bruckner eben nicht alles – über den Detailschärfen etwa im Andante drohte auch schon mal der große Bogen einzubrechen, die Satzeinheit zu zerfallen. Die formidable Performance des Orchesters verhinderte somit nicht den Eindruck, dass dieser Interpretation spirituell etwas fehlte. Man wagt es angesichts der Umstände kaum zu sagen – aber François-Xavier Roths aktuelle Bruckner-Deutungen mit dem Gürzenich-Orchester sind da – unerachtet des Unterschieds zwischen Originalklang und Traditionsklang – einfach näher „dran“.
Das Konzert mit der Vierten begann um 19 Uhr und dauerte nur bis etwa 20 nach acht – weshalb, wer wollte, im Anschluss im Wallraf-Richartz-Museum weitermachen konnte. Da gab es ein schönes Kammerkonzert mit den Amsterdamer Künstlerinnen Lucie Horsch (Blockflöten) und Olga Pashchenko (Cembalo) zu hören. Man muss es übrigens aus diesem Anlass wieder einmal sagen: Atmosphärisch und akustisch ist der Stiftersaal für solche Veranstaltungen eine großartige Location.
Mit Barock-Suiten und -Sonaten von Charles Dieupart, Joseph Bodin de Boismortier und Bach schienen die Interpretinnen ins gewohnte Alte-Musik-Revier zurückzukehren – wenn da nicht eine verstörend moderne Sektion mit Kompositionen von Calliope Tsoupaki und Louis Andriessen gewesen wäre. Und Sweelincks „Fantasia cromatica“ für Cembalo solo greift mit ihren harmonischen Kühnheiten ebenfalls weit in die Zukunft aus. Der Effekt einer bohrenden Chromatik zündete im Konzert in aller Radikalität bei Bach – was eben dadurch auffiel, dass dessen Flötensonate BWV 1030 direkt im Anschluss an den Sweelinck kam.
Horsch und Pashchenko ließen diesbezüglich und auch sonst nichts anbrennen: Hochvirtuose Spielfreude, großartige Verzierungskunst, klangrednerische Intensität und gepflegter Rausch machten den Konzertbesuch bei fortgeschrittener Stunde zu einem bannenden Erlebnis.