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Kölner Uni-Professor über das Kant-Jahr„Der Ukraine-Krieg hat die Kant-Gemeinde zerrissen“

Lesezeit 8 Minuten
Interview mit dem Kölner Humboldt-Professor Sven Bernecker über Immanuel Kant anlässlich seines 300. Geburtstags.

Interview mit dem Kölner Humboldt-Professor Sven Bernecker über Immanuel Kant anlässlich seines 300. Geburtstags.

Der Humboldt-Professor Sven Bernecker im Interview über aktuelle Debatten in der Kant-Forschung, und warum viele Ideen des Philosophen heute wie Binsenweisheiten wirken.

Herr Bernecker, noch befinden wir uns im Kant-Jahr, der Königsberger Philosoph wurde vor 300 Jahren geboren. Hat das Jubiläumsjahr etwas Neues gebracht?

So ein Jubiläumsjahr ist gut, weil es eine Katalysatorwirkung hat. Auf Themen, die in der philosophischen Diskussion en vogue sind, wurden Schlaglichter aus Kantscher Perspektive geworfen. Beispiel: Künstliche Intelligenz. Was hätte Kant dazu gesagt? Dazu ist einiges entwickelt worden. Es hätte vielleicht nicht das Kant-Jubiläum gebraucht, aber es war ein willkommener Anlass. Schlecht war, dass die Kant-Gemeinde aufgrund der politischen Situation in der Ukraine zerrissen wurde.

Der Jubiläumskongress war ursprünglich in Kants Geburtsstadt Kaliningrad geplant – und er fand auch statt. Aber es waren nur die Wissenschaftler aus dem Osten da. 500 Leute immerhin, wurde behauptet. Wenn das stimmt, wäre das halb so groß gewesen wie ein Bonner Kongress im September mit rund 500 Sprecherinnen und Sprechern und noch mal so viel Zuhörern.

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Ging der Riss auch durch die Inhalte, also die Kant-Forschung?

Das wäre mir nicht bekannt. Ich selbst war in Kaliningrad nicht dabei. Neben Wissenschaftlern sollen auch Polit-Funktionäre teilgenommen haben. Ich kann aber nicht sagen, inwieweit da eine Vereinnahmung Kants stattgefunden hat. Der Westen nimmt Kant zum Kronzeugen für die Demokratie und für deren Ideale. Aus diesem Grunde wurde Kant in Russland etwas zurückgesetzt.

Inwieweit bietet Kant das Potenzial für eine antidemokratische oder eine autoritäre Vereinnahmung? Und wenn Sie sagen, der Westen vereinnahmt Kant: Ist es das wirklich oder nicht doch eine authentische Bezugnahme?

Das ist Auslegungssache. Kant betont ja immer die Gesetzgebung der Vernunft. Was zählen soll, ist die Vernunft. Das ist bei Kant gemünzt gegen die Kirche und den Klerus. Insofern vertritt er eine befreiende Philosophie. Was Vernunft bedeutet in der Metaphysik – dazu hat sich Kant sehr klar geäußert. Was Vernunft in der Realpolitik bedeutet, dazu hat er nur wenig gesagt. Insofern kann sein Ansatz, dass die universale Vernunft sich gegenüber Individualinteressen durchsetzen muss - natürlich schon ausgenutzt werden von diktatorischen und antidemokratischen Regimes und Machthabern.

Interview mit Humboldt-Professor Sven Bernecker an der Uni Köln über Immanuel Kant anlässlich seines 300. Geburtstags.

Interview mit Humboldt-Professor Sven Bernecker an der Uni Köln über Immanuel Kant anlässlich seines 300. Geburtstags.

Kant in der außereuropäischen Tradition

Man sieht schon an der Französischen Revolution, was im Namen der Vernunft so alles passieren kann…

Absolut, das Partikulare geht unter im Kantschen System. Und hier setzt zum Beispiel die postkoloniale Kant-Kritik an: Auf der einen Seite ist es zu begrüßen, dass sich die Vernunft durchsetzt, aber gleicht es nicht einem Einheitsbrei, wenn die Vernunft überall dieselbe bei allen Menschen ist? Und heißt das in letzter Konsequenz, dass partikulare Traditionen und Kulturformen aufgegeben werden sollten? Das wäre nicht zu begrüßen.

Auf einem Kant-Kongress der Humboldt-Stiftung, der ebenfalls im September in Bonn stattfand, lag der Fokus genau hier: auf der Rezeption der Kantschen Ideen in außereuropäischen Traditionen. Es gibt hier zwei Lesarten: Kant als jemand, der den Eurozentrismus zumindest nicht ablehnt und vielleicht sogar legitimiert. Und demgegenüber das Bild, wonach Kant derjenige ist, der die Mittel zur Selbstbefreiung für alle Menschen und Völker bereitstellt.

In welchem außereuropäischen Land ist die Kant-Forschung besonders ausgeprägt?

Am stärksten ist die Kant-Rezeption in China und Japan sowie in Lateinamerika. In China wird versucht, eine Brücke zwischen Kant und Konfuzius zu schlagen. Kants Betonung einer universellen Vernunft und sein Prinzip der Autonomie steht in einem Spannungsverhältnis zur konfuzianischen Betonung der sozialen Ordnung und der familiären Ethik. In Afrika wird Kant weniger gelesen, die Unis sind weniger deutsch geprägt, eher englisch und französisch.

Kant und seine Schachtelsätze

Kann man Kant heute ohne Übersetzungshilfe denn überhaupt verstehen?

Kant ist an sich nicht so schwierig. Wenn man Hegel nimmt oder Heidegger, dann wird es richtig schlimm. Kant formuliert in Schachtelsätzen. Wenn man sie unterteilt, dann geht es.

Was würde sich zum Einstieg eignen?

„Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, abgesehen vom dritten Abschnitt. In dieser Schrift sind die Grundideen von Kants Moralphilosophie erklärt. Das ist verhältnismäßig gut verständlich. Seine geschichtsphilosophischen Arbeiten sind ebenfalls gut verständlich, sind aber eher Randarbeiten. Es gibt dann auch eine ganze Reihe sehr guter Sekundärtexte, die Kant aufarbeiten. Das Kant-Bändchen von Claudia Blöser oder „Der bestirnte Himmel über mir“, ein Gespräch von Omri Boehm und Daniel Kehlmann über Kant. Einige lesen Kant lieber in Übersetzung, weil die langen Sätze unterteilt werden. Das verstehe ich, aber nicht, wenn es um die Worte geht.

Warum nicht?

Nehmen Sie das Wort „Anschauung“ – zentral in Kants Philosophie. Anschauung ist bei ihm das, was wir durch die Sinne wahrnehmen. Im Deutschen steckt hier das „Schauen“ drin. Im Englischen wird es mit „Intuition“ übersetzt, das ist im Deutschen etwas ganz anderes. Die Doppelbedeutung des Originals fällt im Englischen weg. Die Übersetzung ist hier ein falscher Freund.

Kant ist „der“ Philosoph der Aufklärung. In gesellschaftlichen und politischen Debatten nehmen viele auf ihn Bezug. Helmut Schmidt etwa gab sich immer als Kantianer. Kommt Ihnen das womöglich etwas hohl vor?

Hohl ist es vielleicht, aber ich finde es legitim und sympathisch, wenn sich Deutschland als Land der Dichter und Denker geriert. Das hört man gar nicht mehr so häufig – eher ist von Deutschland als Land des Fortschritts durch Technik die Rede. Wenn Politiker den Namen Kants oder eines anderen Philosophen in den Mund nehmen, entstehen Fragen und Gespräche. Insofern ist mir das nur recht.

Es ist nichts Sakrosanktes an Kant, als ob sich nur Universitätsprofessoren zu ihm äußern dürften. Philosophie ist auch unser Kulturgut. Gerade bei Kant merkt man das. Viele seiner Ideen wirken fast wie Binsenweisheiten. Nicht weil sie nichts Neues waren, als Kant sie ersonnen hat, sondern weil sie nach und nach über unser Bildungssystem ins Allgemeinverständnis gesickert sind. Dazu tragen auch Politikeräußerungen bei.

War Kant ein Rassist?

In den Medien ging es zuletzt oft um die Frage: War Kant ein Rassist oder nicht…

Er äußert sich ganz am Anfang seines Wirkens zu anderen Völkern und dann noch einmal am Ende seiner Karriere. Die Jahre des Schweigens dazwischen – wie interpretiert man die? Das ist eine der großen Debatten. Heißt es, dass er von seinen früheren Vorstellungen abgerückt ist? Dass ihm nichts mehr dazu eingefallen ist, dass es ihn nicht mehr interessiert hat? Dass Kant Rassist war, ist klar. Das zu leugnen wäre töricht. Da gibt es zu viele Textbeweise. Aber was macht man damit? Heißt es, dass alles, was er sonst geschrieben hat, Unfug ist? Dass er seinen eigenen Idealen untreu geworden ist? Einigen fällt es schwer, die Person vom Werk zu entkoppeln.

Bei Philosophen wie Platon hat man sich übrigens daran gewöhnt: Die Bürgerschaft im antiken Athen hat Platon ernst genommen. Aber nicht alle waren Bürger für ihn. Frauen, Sklaven und Gastarbeiter gehörten nicht dazu.

Was würde Kant zur heutigen Weltlage sagen? Sind beispielsweise seine Ansichten zu Frieden und Krieg heute noch nutzbar?

Kant sagt, der Frieden beruht auf Verträgen. Der Friede ist das, was erreicht wird, wenn man den Naturzustand verlässt, also den rechtlosen Zustand. Nun gibt es heute zwar alle möglichen Rechtssysteme, viele bilaterale Verträge. Wir haben die Vereinten Nationen. Aber es gibt keine globalen Institutionen mit Vollstreckungsgewalt, die es nach Kants Auffassung bräuchte, um Frieden herzustellen und zu sichern. Und zwar transnational. Ob das praxistauglich wäre, ist eine andere Frage.

Kant wäre jedenfalls nicht überrascht davon, dass wir nicht im ewigen Frieden leben. Ob die Hoffnung berechtigt ist, dass ein völlig durchrechteter Raum Frieden sichert, weiß ich nicht. Das Recht gilt nur so lange, wie die Menschen sich daran halten. Die stabilsten Abkommen sind schon gebrochen worden. Dass der Friede von Kant als ein Idealzustand dargestellt wird, ist aber ein schöner Gedanke.

Kant: Könnte heute ein Meisterwerk wie die „Kritik der reinen Vernunft“ entstehen?

Kant arbeitete etwa zehn Jahre an seiner „Kritik der reinen Vernunft“ bis er sie dann 1781 veröffentlichte. Wäre etwas Vergleichbares im heutigen Universitätssystem noch vorstellbar – angesichts von Publikationsdruck und knappen Ressourcen für Forschung?

Möglich ist das natürlich. Wir haben als Professoren alle Freiheiten, die wir brauchen. Die Forschungsfreiheit ist sogar im Grundgesetz verankert. Man kann eine Professur nutzen, um hauptsächlich zu forschen. So zumindest scheint es. In der Realität sieht das jedoch oft anders aus. Eine Umfrage unter Professoren im letzten Jahr ergab, dass nur etwa 2o Prozent ihrer Arbeitszeit für die Forschung aufgewendet wird. Der Rest geht in die Lehre, Nachwuchsbetreuung, Drittmittelakquise, Gremientätigkeit.

Ich gehe davon aus, dass viele Professoren lieber mehr Zeit in die Forschung investieren würden. Denn schließlich ist die Freude an der Forschung oft der Grund für die Berufswahl. Aber selbst, wenn mehr Zeit für Forschung verfügbar wäre, ist es keineswegs sicher, dass dabei häufiger solche Meisterwerke wie die „Kritik der reinen Vernunft“ herauskommen würden. Kant war ein Ausnahmetalent, und bahnbrechende philosophische Ideen zu entwickeln, gelingt nicht jedem – ganz unabhängig davon, wie viel Zeit zur Verfügung steht. Wäre das anders, wäre nicht zu erklären, warum uns Kants Philosophie auch nach 300 Jahren noch immer so fasziniert.