Am 2. Dezember veröffentlicht der Kölner Reggae-Sänger Gentleman sein neues Album „Mad World“. Im Gespräch erzählt Tilmann Otto, warum er heute wohl nicht mehr anfangen würde, als Deutscher auf Patois zu singen.
Kölns Reggae-Star Gentleman„Kulturelle Aneignung hat auch etwas Positives“
Gentleman, Ihr neues Album trägt den Titel „Mad World“, der drängt sich derzeit ja geradezu auf. Stand er von am Anfang fest?
Gentleman: Nein, erst ganz am Schluss! Ich finde es manchmal schwieriger, einen Titel für ein Album zu finden, als die Songs dafür zu schreiben. Wir sind dann die Liste der zwölf Songs durchgegangen und einer von den Produzenten hat vorgeschlagen, „Mad World“ nehmen, das mache doch gerade Sinn. Ich mag aber auch das Verrückte an der Welt, es ist also nicht nur negativ gemeint.
Sie covern nicht nur den bekannten Tears-for-Fears-Song, sie schreiben ihn fort. Wie kam es dazu?
Universal, meine Plattenfirma, besitzt die Rechte an dem Song und fragte mich, ob ich etwas mit ihm machen will. Ob das eine Akkordfolge, ein Sample oder zwei Zeilen aus dem Refrain sein sollten, stand mir frei. Und dann haben die Jungs die Akkorde zugespielt, ich habe meine Strophen dazu geschrieben, und so ist das ganz schnell und auf natürliche Weise entstanden.
Als Sie im vergangenen Jahr nach ihrem Gemütszustand gefragt wurden, haben Sie „voller Liebe, voller Wut“ geantwortet. Ist das noch gültig?
Ja, und das verändert sich auch nicht. In der Pandemie hatte ich das Gefühl gehabt, wenn das Ding vorbei ist, folgt die Explosion der Lebensfreude. Stattdessen kam der Krieg – und dann die Inflation, die Energiekrise und Taiwan und China und der Iran. Die Wut hat aber auch etwas Positives. Aus der Wut heraus sind ja viele Revolutionen, viele Veränderungen entstanden. Als Künstler gönne ich mir das Paradox zu sagen, die ganze Welt ist im Arsch, aber die Dinge werden auch irgendwann wieder besser sein. „Mad Word“ ist eine Hommage an die Menschen, die selbst in den krassesten Zeiten ihren Humor nicht verlieren. Die trotz allen weiter Babys machen und Songs schreiben.
In der Hoffnung, dass es nur besser werden kann?
In meiner jugendlichen Naivität habe ich noch gedacht, dass wir irgendwann alle in Frieden leben werden. Das glaube ich mittlerweile nicht mehr. Aber ich glaube schon, dass es eine Balance gibt, dass das Licht kommt, wenn die Dunkelheit zu groß wird. Im Moment ist es wichtig, sich nicht verrückt machen zu lassen. Dazu kann die Musik einen großen Beitrag leisten.
Sie haben mir mal erzählt, wie Sie in Liedern von Bob Marley Trost finden. Den bieten Sie Ihren Fans nun auch an.
Wenn Leute in der Musik eine Kraft finden, dann ist sie mehr als nur Entertainment. Und wenn ich das von einem Fan als Feedback kriege, motiviert mich das als Künstler. Musik, oder Kultur im Allgemeinen, kann vielleicht nicht die Welt verändern, aber sie kann sie auf jeden Fall ertragbarer machen. Leider hat gerade die Kultur in der letzten Zeit krass gelitten. Erst wurde sie in der Pandemie komplett beschnitten, jetzt kann sie sich nicht mehr finanzieren.
Nach Wasserschaden im Kölner Haus flüchtete Gentleman nach Mallorca
Sie haben das Album weder in Köln noch in Kingston, sondern auf Mallorca eingespielt. Wie kam es dazu?
Ich hatte diesen Wasserschaden bei mir im Haus in Köln, während der Ahrtalflut. Es ist zum Glück niemand verletzt worden, aber unser Haus war unbewohnbar geworden und wir mussten für anderthalb Jahre ausziehen. Also haben wir uns gesagt: Jetzt gehen wir irgendwo in die Sonne.
Und inwiefern hat der Ort den Inhalt beeinflusst?
Das hat er vor allem durch die fehlende Ablenkung. Du hörst Ziegen und Schafen zu, guckst in die Berge und abends zu den Sternschnuppen hoch, konsumierst keine Medien. Das hat bei mir das Gefühl hervorgebracht, auf einer ganz langen Reise zu sein, ohne jetzt esoterisch abdriften zu wollen. Ich werde Köln nie verlassen, aber ich pendele jetzt hin und her.
Würden Sie sagen, Sie haben Ihr Leben nachhaltig verändert?
Ja, ich glaube, die nachhaltigste Veränderung für mich ist die Reduzierung aufs Wesentliche. Hin zur Natur, weg von der Großstadt. Das klingt vielleicht ein wenig altbacken und es hat sicher auch ein bisschen was mit dem Alter zu tun. Ich möchte gelassener werden und nicht verbitterter.
Ihr vorletztes Album war das Erste, in dem Sie auf Deutsch gesungen haben. Jetzt sind Sie wieder beim Patois gelandet. Wird das so bleiben?
Ich würde mich jetzt nicht festlegen wollen. Aber während des Schreibprozesses zu „Blaue Stunde“ habe ich die Leichtigkeit vermisst. Vielleicht, weil ich seit 30 Jahren auf Englisch schreibe, oder auch, weil es auf Deutsch eine echte Frickelarbeit ist, den richtigen Sound, den richtigen Flow zu finden. Für mich war es immer ein Herzenswunsch gewesen, auch mal in den Breitengraden, wo ich lebe und viele Konzerte spiele, verstanden zu werden. Ich war neidisch auf die Kollegen und Kolleginnen, bei denen die Fans auf Festivals jede Textzeile mitgesungen haben. Der finale Impuls kam dann mit meiner Teilnahme bei „Sing meinen Song“.
Sie waren in zwei Staffeln der beliebten Vox-Show „Sing meinen Song“ dabei. Was war das für eine Erfahrung?
Ich hatte zuvor dreimal abgelehnt. Ich fand die Show super cool, aber ich habe mich da nicht gesehen. Aber irgendwann habe ich mich getraut, mal aus meiner Komfortzone herauszugehen – und es war genau die richtige Entscheidung. Ich habe das tierisch genossen, habe ganz viel gelernt, musikalisch meinen Horizont erweitert.
Haben Sie durch die TV-Show und die deutschen Texte neue Fans dazu gewonnen?
Also ich habe schon das Gefühl, dass die Leute mich ein bisschen besser kennengelernt haben. Dass man durch die deutschen Texte besser versteht, wie mein Kopf und mein Herz tickt. Aber in dem Moment, in dem ich das deutsche Album veröffentlicht habe, kamen keine Konzert-Anfragen mehr aus Costa Rica, Kalifornien, Afrika oder der Karibik. Ich will aber so viele Menschen wie möglich erreichen.
Früher haben Sie ja selbst bei Konzerten im deutschsprachigen Raum ihre Zwischenansagen im jamaikanischen Kreolisch gesprochen …
… völlig albern, ich weiß. Aber ich war einfach in einem bestimmten Spirit drin. Mittlerweile kann ich das ganz gut trennen.
Als Sie vor mittlerweile 23 Jahren ihr erstes Album, „Trodin‘ On“ herausgebracht haben, war das eine kleine Sensation: authentischer Reggae aus Köln. Heute müssten Sie sich wahrscheinlich den Vorwurf kultureller Aneignung gefallen lassen?
Ich weiß nicht, ob ich mit dem heutigen Zeitgeist noch anfangen würde, auf Patois Reggae zu singen, so wie ich das damals in meiner jugendlichen Naivität gemacht habe. Es gab ja auch noch nicht diese Internetblase, die eine Dynamik entwickelt hat, die es so noch nie gab. Ich verstehe die Debatte und ich glaube, sie ist auch wichtig. Aber sie ist ein zweischneidiges Schwert: Sie kann uns wirklich voranbringen, oder auch ein Mega-Rückschritt sein.
Wann bringt sie uns voran?
Wenn wir uns bewusst machen, dass wir als weiße Menschen rassistisch sozialisiert worden sind. Wenn ich mir nur die Kinderbücher angucke, die meine Mutter mir vorgelesen hat: Als ich die meiner afroamerikanischen Tochter vorlesen wollte, musste ich da viele Seiten überspringen. Dass diese Dinge jetzt hinterfragt werden, finde ich super. Wenn die Debatte dahin führt, dass wir sensibler werden, auch dafür, dass bestimmte Geschichten nicht unsere Geschichten sind – dann ist es gut so. Aber wenn sie dahin führt, dass wir uns einschnüren und nichts mehr dürfen, dann ist sie kontraproduktiv. Für mich hat der Begriff der kulturellen Aneignung immer auch etwas Positives gehabt, im Sinne davon, dass es ein Lernprozess ist. Ich eigne mir das Autofahren an, oder neue Skateboard-Tricks.
Aber das ist damit natürlich nicht gemeint.
Nein, es geht natürlich um die marginalisierten Gruppen. Es geht zum Beispiel darum, dass sich Menschen im Karneval nicht bestimmte Sachen anziehen, für die andere Menschen gelitten haben. Es geht nicht darum, dass dann der Türke keine Pizza mehr machen darf. Die Pizza ist ja nie unterdrückt worden. Da ist der Knackpunkt. Wenn ich von meinem eigenen Fall ausgehe: Ich habe mich als Jugendlicher in diese Musik verliebt, ohne zu wissen, was für eine Geschichte sie hat. Aber der nächste Schritt war dann zu gucken, wo kommt das denn her? Da bin ich nach Jamaika gegangen. Ich habe mit vielen jamaikanischen Künstlern und Künstlerinnen zusammen Musik gemacht, wir haben zusammen Geld verdient. Die Debatte ist gerechtfertigt, mich stört allerdings die Art und Weise, wie sie manchmal geführt wird, dass man sich keine anderen Meinungen mehr anhört, sondern direkt auf die Barrikaden geht. Bis dann irgendwann gar nichts mehr geht. Aber genau das wäre ja ein AfD-Traum.
Sie gelten als gutes Beispiel für eine gelungene Aneignung, dafür, wie man in einen Dialog tritt, ohne jemand anderem etwas wegzunehmen, oder die Dinge ihren Kontexten zu entreißen.
Aber vieles liegt nicht in meiner Hand. Es wurmt mich, dass ich mit meiner Musik mehr Geld verdiene, als manche jamaikanische Künstler und Künstlerinnen, die wahrscheinlich mehr Talent haben. Mich wurmt es auch, wenn große Reggae-Festivals, keine jamaikanischen Künstler mehr einladen, weil es ja jetzt auch vor Ort viele Künstler gibt. Es ist ganz wichtig immer auch zu checken, wo kommt das, was wir so lieben, her?
Wird diese Diskussion eigentlich auch in Jamaika geführt?
Nein, ich bin in Jamaika immer für das, was ich mache, respektiert worden. Das wird dort eher als Anerkennung wahrgenommen, oder als neue Plattform für die Musik. Als ich 2004 mit dem Song „Intoxication“ meinen Durchbruch hatte, lief der in Jamaika im Radio und auf jeder Party und keiner wusste, dass der Typ aus Deutschland ist. Am Ende geht es darum, ob du das, was du machst, gut machst, authentisch und respektvoll.
„Mad World“ erscheint am 2. Dezember bei Universal