KolumneWarum mich der Vinyl-Boom nervt
Albert Einsteins Plattensammlung, habe ich neulich gelesen, geht auf Ausstellungstournee. Dass der Physiker ein Musikliebhaber war, der seine Geige zärtlich Lisa nannte, ist bekannt. Auf die Frage, wie er auf die Relativitätstheorie verfallen sei, soll Einstein schlicht „Intuition“ geantwortet haben, und die treibende Kraft hinter dieser Intuition sei Musik gewesen. Wollte mal eine Gleichung nicht aufgehen, konsultierte das Genie seine Plattensammlung.
Das muss ich unbedingt meiner Frau erzählen, wenn sie sich das nächste Mal darüber beschwert, dass sie jede Nacht neben einer Wand aus Tausenden von Vinylplatten schlafen muss, deren Hüllen nach alter Pappe riechen. Für gewöhnlich antworte ich dann: „Heirate einen Mann, und du heiratest seinen Müll.“ Woraufhin sie auf die Existenz von Streamingdiensten verweist.
Da hat sie recht. So gut wie alle Musik der Welt steht mir im Augenblick zur Verfügung, für einen Bruchteil des Geldes und ohne das Haus vollzurümpeln. Dabei nutze ich ja längst einen Streamingdienst. Höre ich da etwas, das mir besonders gut gefällt, kaufe ich mir die entsprechende Schallplatte. Muss am Alter liegen. Männer über 40, das konnte man zuletzt wirklich überall lesen, legen sich wieder Plattenspieler zu.
Der Vinyl-Boom nervt
Das nennt man den Vinyl-Boom. So eine Art Midlife-Crisis-Fetisch für Menschen, die sich keinen Porsche leisten können. Aber ich leide unter keiner Krise, ich bin nur zufällig so alt geworden und hatte immer schon einen Plattenspieler. Trotzdem: Der Vinyl-Boom nervt. Platten kosten heute fast das Doppelte wie vor drei Jahren. Was mit Superdupersonder-Editionen gerechtfertigt wird, Doppelvinyl, jeweils mindestens 180 Gramm schwer und selbstverständlich farbig, durchsichtig oder – wenn die Musik nicht für vier Seiten hinlangt – mit eingekratztem Bild.
Ich gebe gerne zu, dass nicht nur das angeblich bessere Klangbild der Grund dafür ist, dass meine arme Frau neben Bergen muffiger Pappe schlafen muss, sondern vor allem das haptische Vergnügen, so eine Platte auf den Teller zu legen und die Nadel in die Rille zu senken. Aber wenn man derart penetrant auf den Fetisch-Charakter des erworbenen Objekts hingewiesen wird, ist es schon wieder zu viel des Guten. Es ist auch nicht allein Nostalgie, die Sehnsucht zurück ins Jugendzimmer (nur ohne Pickel und Hausaufgaben), die einen zum Fachhandel treibt. Allein in Köln gibt es übrigens laut gerade neu aufgelegter „Vinylmap Cologne“ derzeit 16 unabhängige Plattenläden. Nein, am treffendsten finde ich die Rechtfertigung, die der Kolumnist und jüdische Kantor Evan Eisenberg bereits vor 30 Jahren, kurz vor dem Siegeszug der hässlichen CD, gefunden hat. Man(n) sammelt Platten, um flüchtiger Schönheit Dauer zu verleihen und sie zu begreifen. Was sich in den schwarzen Rillen verbirgt, kann Raum und Zeit aushebeln. Selbst wenn es mal müffelt.
Christian Bos, Redakteur im Ressort Kultur, schreibt in seiner Kolumne über die Popkultur in all ihren Facetten.