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Kommentar zum ESC„Zitti e buoni“? – Europa ist tatsächlich bunt und verrückt

Lesezeit 3 Minuten
Italien ESC 230521

Italien hat mit dem rockigen Protestsong „Zitti e buoni“ der Band Måneskin den Eurovision Song Contest in Rotterdam gewonnen. 

Rotterdam – Von außen betrachtet ist „Zitti e buoni“, der italienische Siegertitel des 65. Eurovision Song Contest in Rotterdam, nur Mimikry einer längst vergangenen Zeit. Irgendwo zwischen Aerosmith und Placebo. Kajalverschmierter Glamrock, wie man ihn auch im Mittleren Westen Amerikas oder in russischen Fußballstadien akzeptieren würde.

Zumindest, wenn man dazu nicht die Performance der vier jungen Römer von Måneskin übertrüge. Nietenbesetzte, eng geschnittene Lederklamotten, die zu viel Haut zeigen, um noch als Macho durchzugehen. Eher wie die Suzi-Quatro-Nacht im Fetischclub (wenn es so etwas denn gäbe). Dazu feuchte Küsse unter Männern und eine Bassistin, die herumstolziert wie ein junger Eddie van Halen.

Für die Sehnsucht, anders zu sein

„Ruhig und brav“ lautet der übersetzte Titel ihres Songs. Aber ruhig und brav waren eher die Favoriten, Frankreichs Barbara Pravi mit der perfekten Chanson-Simulation „Voilá“ und Gijon‘s Tears aus der Schweiz, dessen „Tout l‘univers“ wahrscheinlich das objektiv beste und best gesungene Lied des Abends war. Sie lieferten sich in der Wertungsrunde der Jury ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen.

Aber die Menschen in Europa hatten genug von Pathos und Leid. Sie gaben ihre Stimmen der aufgekratzten, verlorenen Jugend des Kontinents – Italien war das erste europäische Land, das vergangenes Jahr vom Virus heimgesucht wurde. Sie votierten mit großer Mehrheit für eine Bande von Außenseitern, die von der Sehnsucht sangen, jung und laut und anders zu sein.

Rettet der ESC den Rock'n'Roll? Wahrscheinlich nicht

Fan-Favoriten waren besonders auch die Isländer, schon vor dem ausgefallenen Wettbewerb im vergangenen Jahr internetweit bekannt. „Daði & Gagnamagnið“ landeten auf Platz vier und performten den Song „10 Years“ – sehr zum Verdruss des Jury-Punkte-Ansagers. „Play Ja Ja Ding-Dong!“ forderte sowohl er als auch einige Plakate im Publikum. Ein Zitat aus dem Film „Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga“ mit Will Farrell, in dem es – ja, genau – um Islands (fiktive) Teilnahme am ESC geht. Ein gelebtes Meme also. Und das passt ja auch hervorragend zu einem Jahr, das sich mehr online als in der Realität abgespielt zu haben scheint. Netflix oder Wirklichkeit? Ja.

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„Wir wollen ganz Europa, der ganzen Welt zurufen, dass Rock’n’Roll niemals stirbt“, bedankte sich Måneskin-Sänger Damiano David nach dem Sieg. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass ausgerechnet der ESC den Rock‘n‘Roll retten wird. Und doch war es ein Moment des kollektiven Aufatmens: Hurra wir leben noch!

Das gilt auch für den Wettbewerb selbst: Die ersten drei Plätze sangen in ihrer jeweiligen Landessprache, die ersten sechs waren Songs, an denen ihre Interpreten selbst mitgeschrieben hatten. Und es war kein klassischer Eurovisions-Reißbrettpop darunter. Stattdessen Glamrock, Chanson, Nerd-Funk, Nu-Metal und folkloristischer Hardtrance aus der Ukraine. Europa ist tatsächlich so bunt und verrückt wie Måneskin das beschwören. (mit pic)