Unser Kolumnist, der Psychologe Stephan Grünewald vom Kölner „rheingold“-Institut, erklärt, warum die Künstliche Intelligenz der seelischen Intelligenz unterlegen ist.
Kolumne über Künstliche IntelligenzÄpfel nicht mit Glühbirnen vergleichen
Die enormen Leistungen und Potenziale der Künstlichen Intelligenz (KI) wurden spätestens mit dem Erfolg von „ChatGPT“ deutlich. Der Chatbot erstellt in Sekundenschnelle Texte, Gutachten, Bilder oder Musikstücke. Auf Knopfdruck kann die KI Millionen von Gerichtsurteilen prüfen oder vergleichen. In der medizinischen Diagnose kann sie anhand von Röntgenbildern präzise Krankheits-Muster erkennen.
Das Staunen über diesen technologischen Entwicklungssprung, der sicherlich in den nächsten Jahren unsere Arbeitswelt revolutionieren wird, verbindet sich häufig mit der Annahme, dass die Künstliche Intelligenz der seelischen Intelligenz überlegen sei. Hier werden jedoch Äpfel mit Glühbirnen verglichen. KI beruht auf einem ausgefeilten Algorithmus, also einer eindeutigen Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems. Algorithmen bestehen aus endlich vielen wohldefinierten Einzelschritten, die in unglaublicher Geschwindigkeit ausgeführt werden. Automatisierung, Schnelligkeit, Effizienz und unermüdliche Produktivität sind die Trümpfe der KI.
Die seelische Intelligenz ist mit der KI nicht wesensverwandt. Sie wird vielmehr bestimmt durch ganzheitliche Qualitäten menschlichen Seins – durch unsere Leiblichkeit, durch unsere Vergänglichkeit und Schicksalsgeworfenheit, durch die innere Widersprüchlichkeit der Seele. Mit anderen Worten: Die KI hat weder Sodbrennen noch Liebeskummer und auch keine Albträume. Sie kennt nicht Leidenschaft, nicht Schmerz, weder Verlockendes noch Erschreckendes, weder Hoffnung noch Verzweiflung. Aber diese Gefühlsqualitäten und die damit verbundenen Suchbewegungen, Irrungen und Wirrungen, Aufschwünge und Enttäuschungen sind unser tiefster Daseinsgrund, die unbewusste Triebfeder unseres Lebens, Strebens und Gestaltens.
Das Wesen und der tiefere Sinn von Kunst und Kreativität bestehen gerade darin, uns mit unseren Widersprüchen zu versöhnen, unsere Träume zu modellieren, unsere Ängste zu beschwichtigen oder unsere Abgründe auszuleuchten. Das setzt aber ein empathisches Verstehen und Mitbewegen voraus, das die KI nicht leistet. Sie ist eine hoch entwickelte Maschine, die vieles nachbilden, ummodeln und neu konfigurieren kann. Sie gelangt dabei zu durchaus erstaunlichen Ergebnissen, die uns aber häufig nicht tiefer berühren, weil sie keiner gemeinsamen Gefühlswelt entspringen.
Der Algorithmus kennt eben keine Langeweile, keine Angst, keine Enttäuschung, keine glücklichen Augenblicke oder den Zauber der Verliebtheit. Der Algorithmus rechnet auch nicht damit, dass sich mit geheimer Logik ständig alles verkehren kann. Plötzlich wird aus Wohltat Plage, aus Sinn Unsinn, aus Schönheit Kitsch oder aus Liebe Hass. Diese Verkehrungslogik ist nicht berechenbar, weil sie einer Seelenlogik entspringt, die verdichtet, verschiebt, zuspitzt, dramatisiert oder ironisiert. Sie folgt somit kunst-analogen Mechanismen, die ihrerseits eben keiner rationalen Logik gehorchen, wohl aber von uns intuitiv verstanden werden können.
Die Behauptung, die künstliche Intelligenz sei der seelischen überlegen¸ fußt darauf, dass Effizienz häufig mit Wirksamkeit gleichgesetzt wird. Ein Witz nimmt den Fehler dieser Gleichsetzung aufs Korn: Ein Verein von Witze-Erzählern beschließt, seine monatlichen Vereinsabende effizienter zu gestalten, indem alle Witze durchnummeriert werden. In ihren Versammlungen rufen die Vereinsmitglieder dann statt der Witze selbst nur noch deren Nummern auf: „Nummer 7“ – allgemeine Heiterkeit. „Nummer 23“ – leises Gekicher. „Nummer 74“ – Prusten im Saal. Auf die Ansage „Nummer 185“ schließlich folgt tosendes, nicht endendes Gelächter. „Warum das?“, fragt ein Gast erstaunt. Antwort: „Witz 185 kannten wir noch nicht.“
Effizienz bleibt künstlich, blutleer und – buchstäblich - witzlos, wenn sie zentrale Parameter der Wirksamkeit außer Acht lässt. Wirksamkeit fußt nicht wie die Effizienz auf Schnelligkeit, sondern auf einer seelischen Entwicklungszeit. Darum kommt ein Witz ganz anders zur Geltung, wenn er pointiert und mit dem richtigen Timing auserzählt wird. Darum ist ein ausführliches Arztgespräch wirksamer als eine schnelle Internet-Diagnose. Und darum braucht eine Psychotherapie mindestens ein halbes Jahr, um wirksam zu werden.
Die KI steigert die Effizienz durch ihre kühle Ratio, durch eine innere Distanziertheit zur Aufgabe, die automatisiert abgewickelt wird. Der Einsatz der KI ist mit dem Versprechen verbunden, sich die Dinge klärend vom Leib halten zu können. Wirksamkeit hingegen braucht die unmittelbare Nähe zum Gegenstand, sie braucht den Mut, die eigenen Verwicklungen zu spüren und so authentische Erfahrungen zu machen. Deshalb lernen wir aus schmerzlichen Erlebnissen mehr als aus den Dingen, die uns kalt gelassen haben. Ein Liebesfilm oder ein Fußballspiel rührt uns erst an, wenn wir mitfiebern, uns mit einer Seite identifizieren und den oft aberwitzigen Schicksalswendungen folgen.
Die Künstliche Intelligenz wird daher die seelische Intelligenz effizient und nützlich flankieren, sie aber niemals ersetzen können. Unsere Wirksamkeit und Lebendigkeit erfahren und verstehen wir erst durch Entwicklungen und Verwicklungen – wenn wir also bereit sind, uns seelisch mitzubewegen.
Grünewald Gesprächsgast
Stephan Grünewald ist Psychologe und Mitbegründer des Kölner „rheingold“-Instituts für qualitative Markt- und Medienanalysen. Bücher wie der Bestseller „Deutschland auf der Couch“, in denen er die Befindlichkeiten der Deutschen unter die Lupe nimmt, ließen ihn zum „Psychologen der Nation“ werden. Auf ksta.de schreibt er regelmäßig aus psychologischer Sicht über gesellschaftlich relevante Themen.
Am Mittwoch, 29. November, ist Grünewald zu Gast in der Gesprächsreihe Lebensroman der Karl-Rahner-Akademie in Köln. Moderatorin des Abends ist die frühere Chefredakteurin des WDR, Helga Kirchner.
Zum Gespräch in der Karl-Rahner-Akademie bringt Grünewald „Die Kulturgeschichte der Neuzeit“ mit, das große Werk des Wiener Kulturhistorikers und Schriftstellers Egon Friedell.
Zur Anmeldung geht es hier.