Kultur-Redaktion empfiehlt LesestoffDas sind die besten Bücher für den Hochsommer
Die Sommer in Köln und Region läuft zur Hochform auf und Sie haben keine guten Bücher mehr? Dann sind die folgenden Buchtipps der Kultur-Redaktion vielleicht eine Inspiration für Sie.
Jean-Paul Dubois: „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“
Paul Hansen sitzt in Kanada hinter Gittern. Was ihn in diese missliche Lage gebracht hat? So schnell erfahren wir das nicht. Zwar gewinnt eine Vermutung mehr und mehr an Boden. Doch Gewissheit gibt es erst gegen Ende des tragikomischen, so anrührenden wie durchweg hinreißenden Romans von Jean-Paul Dubois: „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“.
Paul – so heißen die meisten männlichen Helden im Werk des französischen Schriftstellers, der Soziologie studiert und als Journalist gearbeitet hat. Über 20 Romane hat Dubois seit seinem Debüt im Jahre 1984 veröffentlicht. Er beginne seine Romane immer im März, hat er im Interview mit „Le Monde“ gesagt, und er schreibe schnell. Da kommt also einiges zusammen. Allerdings ist von alledem bislang nur sehr wenig auf Deutsch erschienen. Umso glücklicher kann sich der Deutsche Taschenbuch Verlag schätzen, dass er nun diesen im vergangenen Jahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman veröffentlichen kann.
Darin erzählt Paul Hansen aus seinem Leben zwischen Frankreich, Dänemark und Kanada. Dieses Leben begann am 20. Februar 1955 gegen 22 Uhr in einer Klinik in Toulouse: „In dem mir zugeteilten Zimmer betrachteten mich zwei Personen, die ich nie zuvor gesehen habe, beim Schlafen.“ Bei diesen Personen handelte es sich um den dänischen Pastor Johanes Hansen und die französische Kino-Betreiberin Anne Margerit.
Bemerkenswert an diesen Eltern war, dass Anne nichts mit der Kirche zu tun haben wollte. Allerdings wuchs auch bei Johanes nahezu von Messe zu Messe der Zweifel an dem, was er predigte. Die Welt befand sich im Wandel, kommentiert der Ich-Erzähler rückblickend im Jahre 2010: „Genau wie die kleinen Kinos erlebten auch die Kirchen ihre letzten schönen Tage.“Der revolutionstrunkene Mai 1968 hat dieser Nord-Süd-Verbindung nicht gutgetan. Da gab es die ersten Risse. Doch zum Bruch kam es erst 1975. In jenem Jahr hatte es sich Anne zum Ziel gesetzt, der öffentlichen Empörung zu trotzen und den Pornofilm „Deep Throat“ in ihrem Programmkino zu zeigen. Das fand Ehemann Johanes nicht mehr hinnehmbar. Nicht wegen der Qualität des Films, dessen Dialoge „auf einen Konfettischnipsel“ passten, sondern wegen der Rufschädigung, die er dadurch als Pastor erfuhr. Johanes zog aus, auf und davon ins ferne Kanada – und der Sohn folgte ihm ein Jahr später.
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Im Montreal der 80er Jahre wird Paul heimisch – in „einer der wenigen Städte auf der Welt, die einem vermitteln, die Stöße und Erschütterungen des Lebens abzufedern, das Unglück schlucken oder mildern zu können.“ Als Oberverwalter der komfortablen Wohnanlage „Excelsior“ ist er zuständig für alle Hausmeisterarbeiten vom Pool bis zur Müllabfuhr. Darüber hinaus ist er jederzeit bereit, sich die privaten Sorgen der 63 Eigentümer anzuhören und zu helfen, wo es ihm möglich ist. Ein Kümmerer.Ja, ihm wächst dieses Soziotop ans Herz. Bis dann eines Tages ein neuer Vorsitzender der Eigentümer-Versammlung gewählt wird: Edouard Sedgwick. Ein Sparfuchs und Paragrafenreiter. Ein Ekel. Der sagt: „Ihre Arbeit ist die Instandhaltung des Hauses und nicht die seiner Bewohner. Und Sie haben keinerlei persönliche Initiative zu ergreifen, ohne dies mit mir abzusprechen. Zum Beispiel Blumen zu der Beerdigung eines Arbeiters zu bringen, der weniger als eine Woche bei uns gearbeitet hat.“ Auch dürfe Pauls Ehefrau Winona nicht mehr den hauseigenen Swimmingpool benutzen, und der Hündin Nouk sei der Zutritt zum Garten verwehrt. All das ist demütigend. Doch den Schikanen zum Trotz wahrt Paul erst einmal die Ruhe.
Paul Hansens Ich-Erzählung ist auf zwei Ebenen angesiedelt. Regelmäßig wechselt er zwischen dem Jetzt im Gefängnis und dem Damals in Freiheit – und dann gibt es noch einen Epilog in Skagen, der Heimat seines Vaters.Was wir über das Gefängnis erfahren, ist kurioser als man meinen könnte. Denn dort lernen wir Patrick Horton kennen, Pauls imposanten Zellengenossen. Dieser Hüne ist ein loyales Mitglied der Hells Angels und ein inbrünstiger Verehrer der Harley Davidson. Es empfiehlt sich, Patrick in keiner Weise in die Quere zu kommen. Alle Insassen wissen, dass er sich auf Argumente nicht gerne einlässt.
Aber auch so ein grober Klotz hat seine schwachen Stellen. Amüsant ist es zu sehen, wenn aus diesem Mammut von Mann eine Maus wird. Für Patrick ist es eine Herausforderung auf Leben und Tod, wenn ihm die Haare geschnitten werden. Das konnte im Grunde nur seine Mutter. Aber auch Paul hat Talent. Zwar muss sich der Motorrad-Rocker ab und an flach auf den Zellenboden legen, weil er der Angst nicht mehr Herr wird – denn jedes einzelne Haar ist doch ein vitaler Teil von ihm. Aber Paul kriegt es bald schon hin, dass der Schnitt der Schere nicht einmal zu hören ist. Als das Frisur-Projekt abgeschlossen ist, wird Patrick sentimental: „Ist bescheuert, aber das treibt mir die Tränen in die Augen.“
Paul hingegen wird es weich ums Herz, wenn er an seine Toten denkt. Zumal an Winona Mapechee, die Liebe seines Lebens. Die Indianerin vom Stamme der Algonkin väterlicherseits und Irin mütterlicherseits gehörte zu den Frauen, „die in jeder Sekunde in dem Bewusstsein leben, dass das Leben viel zu kurz und zu wertvoll ist, um es in den Warteschlangen zweitrangiger Probleme auszubremsen“. Winona war Pilotin einer Beaver, eines einmotorigen Flugzeugs, das auf Schwimmern, Kufen oder notfalls auch auf Rädern landen kann. Auch hat sie Paul einiges aus der Welt des Schamanismus anvertraut, vom Ritual des bebenden Zeltes und vom Karibu, das nur unter dem Maul weiß gefleckt ist. Nicht einmal eine klitzekleine Übellaunigkeit relativierte ihre Liebe.
Dass Winona nicht mehr unter den Lebenden ist, wird sofort verraten. Wie es dazu kam, können Dubois-Leser früh erahnen. Überhaupt hegt er eine sympathische Treue zu Motiven und Protagonisten. So schenkt Dubois Kraftfahrzeugen regelmäßig seine Aufmerksamkeit. Diesmal rollen ein Ford Bronco und ein Honda Civic durch die Seiten, bleibt ein NSU Ro 80 in Aarhus, Hamburg und Dortmund liegen und verunglücken Pauls Großeltern in einem Citroën DS.
Ein intensiver Roman ist das, reich an Episoden und Korrespondenzen, mit einem schlüssigen Plot und einem entspannten Ton, eingebettet in die real existierende Welt zwischen den 68ern und Barack Obama und versehen mit einigen zeitkritischen Einlassungen: „Der Beginn der 2000er Jahre markierte eine wahre Zurschaustellung von Exerzitien der Mittelmäßigkeit, bei denen jeder darauf zu brennen schien, zu brillieren.“Dubois zeigt uns eine moralisch zersplitterte Welt. Wir entdecken die Guten und die Bösen. Auf der einen Seite gibt es die „Cost Killer“ ohne Mitgefühl oder die „Casuality Adjuster“, die für die Lebensversicherungen den Wert eines Lebens kleinrechnen. Auf der anderen Seite gibt es Menschen wie Paul und Winona und einige mehr, die hilfsbereit sind und den Anstand wahren – und damit ihr Gesicht.
Weshalb ein solcher Menschenfreund im Gefängnis landet, wird dann auch noch erzählt. Dass Pauls Tat, die er nicht bereut, in einem Rechtsstaat für eine Bestrafung infrage kommt, ist gewiss. Trotzdem hätte ihm sein Vater bei der Entlassung aus der Haft auf die Schulter geklopft. So wie damals, als Paul das Abitur trotz einiger Mühen machte und Johanes auf Dänisch sagte: „Min son, jeg er stolt af dig.“ Mein Sohn, ich bin stolz auf dich.
Martin Oehlen
Jean-Paul Dubois: „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“, deutsch von Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver, dtv, 256 Seiten, 22 Euro, E-Book: 20 Euro
Tayari Jones: „Das zweitbeste Leben“
Familie kann alles sein, ein behütender Schutzraum, letzte Zuflucht vor den Widrigkeiten des Lebens ebenso wie ein Ort der Abgründe und furchtbaren Verletzungen. Gelegentlich ist sie beides, nur nicht gleichzeitig. Diese Erfahrung macht Dana, Tochter von Gwen und James Witherspoon, schon früh. Denn ihr Vater James, das erfährt sie als junges Mädchen, hat noch eine zweite Familie, eine andere Frau, eine andere Tochter. „Mein Vater, James Witherspoon, ist ein Bigamist“, beginnt sie lapidar ihre Aufzeichnungen – und lässt ahnen, wie viel Kummer und Leid sich für das Mädchen hinter dieser nüchtern formulierten Feststellung verbergen.Denn Dana darf niemandem etwas von der Existenz ihres Vaters, der sie und ihre Mutter einmal in der Woche besucht, sagen. Das könnte schließlich den ganzen Schwindel auffliegen lassen, so die nicht unberechtigte Sorge von James. „Atlanta“, schärft er seiner illegitimen Tochter ein, „ist wie ein Dorf, hier kennt jeder jeden“. Vollends klar wird Dana ihr Status, als sie ihren Vater fragt, ob denn die andere Familie ein Geheimnis sei. Nein, antwortet James, das verstehe sie falsch: „Du bist das Geheimnis“.
Dabei ist James Witherspoon kein abgebrühter Zyniker. Er bemüht sich nach Kräften, den allzeit gefährdeten labilen Zustand zu erhalten, gleichzeitig aber allen beteiligten Personen gegenüber liebevoll und zuverlässig zu bleiben – natürlich der fromme Selbstbetrug eines Egoisten zu Lasten anderer, wie sich zeigt.
Denn Atlanta ist tatsächlich das Dorf, wo man sich als Mitglied eines bestimmten Milieus fast zwangsläufig irgendwann über den Weg läuft, zumal wenn man, wie Dana und ihre Schwester Chaurisse, fast gleichaltrig ist und auch noch im selben Stadtteil lebt. Und so begegnen sich die beiden zufällig. Während Dana von der Existenz einer Schwester weiß, ist Chaurisse, genau wie ihre Mutter Laverne, ahnungslos – bis es kommt, wie es kommen muss, und die Verhältnisse zu tanzen beginnen.
Es ist eine traurig-berührende Geschichte, die die afro-amerikanische Autorin Tayari Jones erzählt. Der erste Teil des Romans schildert die komplizierte Beziehung eines sympathischen Bigamisten zu seinen zwei Frauen und vor allem zu seinen Töchtern aus der Perspektive von Dana, seinem heimlichen Kind. Der zweite Teil ergänzt die Story aus Sicht von Chaurisse, die von jetzt auf gleich den Boden unter den Füßen verliert, weil ihr bislang so heiles Zuhause plötzlich ein Scherbenhaufen ist und sie, das geliebte Einzelkind, ihren exklusiven Status verliert. Während die eine tapfer um ihre Anerkennung als Tochter ihres Vaters kämpft, fühlt sich die andere wie aus dem Nest gestoßen. Verwundet werden sie beide, jede auf eine ganz eigene Weise.
Die 1970 in Atlanta geborene Tayari Jones gehört zu den erfolgreichsten Stimmen der reichen US-amerikanischen Gegenwartsliteratur, vielfach preisgekrönt und prominent empfohlen von Oprah Winfrey und Barack Obama. Ein großer internationaler Erfolg war der Roman „In guten wie in schlechten Zeiten“. Nun ist mit „Das zweitbeste Leben“ ein früheres Werk auf Deutsch erschienen, das ebenfalls in der Welt des schwarzen Amerika spielt und den Vergleich mit dem Vorgänger nicht scheuen muss. So einfühlsam, so eindrucksvoll wird selten über das Erwachsenwerden geschrieben, über die Vertreibung aus dem Paradies einer unproblematischen Kindheit. Gerade der Verzicht auf Pathos und das Beschreiben großer Gefühle macht diese Lektüre zu einem ungemein emotionalen Erlebnis, zu einem packenden Leseereignis.
Michael Hirz
Tayari Jones: „Das zweitbeste Leben“, deutsch von Britt Somann-Jung, Arche, 352 Seiten, 22 Euro, E-Book: 18 Euro.
Victoria Mas: „Die Tanzenden“
Geschichte ist bekanntlich von Männern geschrieben worden. Das gilt auch und insbesondere für die der Medizin. Bis heute wirken alte Dogmen nach, werden überkommene Deutungsmuster und Erzählungen weitergetragen, in der Psychologie zum Beispiel. Und nicht wenige Medikamente werden noch immer vornehmlich am Prototyp Mann getestet und optimiert, ungeachtet der Spezifika weiblicher Körper.
Der Roman „Die Tanzenden“ von Victoria Mas erzählt an einem besonders unrühmlichen, historisch belegten Beispiel von männlicher Willkürherrschaft und Unterdrückung im Namen der Forschung im 19. Jahrhundert. Die fiktive Handlung spielt im „Hôpital de la Salpêtrière“ in Paris. Das Spital existiert noch heute und war damals eine der bedeutendsten psychiatrischen Anstalten Europas: Ausschließlich weibliche Patienten waren dort untergebracht. Frauen, die als Hysterikerinnen galten etwa, Frauen, die unter Epilepsie litten, aber auch Frauen, die aus unterschiedlichen Gründen ihren Familien zur Last fielen und deshalb verstoßen wurden. Sie alle landeten hinter den dicken Mauern in einem oft lebenslangen Gefängnis.
Die interessantesten Fälle zerrte der dort wirkende Neurologe Jean-Martin Charcot auf eine Bühne, um sie vor einem ausschließlich männlichen Publikum zu hypnotisieren oder anderweitig zu „therapieren“ – inklusive Langzeitschäden bei den Anschauungsobjekten. Und zur Karnevalszeit gab es einen Ball der Verrückten, bei dem sich die weiblichen Insassen aufputzen und tanzen mussten, vor den Augen der feinen Pariser Gesellschaft, die stets auf einen epileptischen Anfall oder andere Zusammenbrüche hoffte. Um die Karnevalszeit spielt nun auch der Roman.
Und die Anstalt ist, nun ja, in freudigen Vorbereitungen. Auch die Frauen selbst, für die der Ball die einzige Gelegenheit ist, der täglichen Trostlosigkeit zu entkommen und die dafür in Kauf nehmen, sich zur Schau zu stellen.
Victoria Mas porträtiert mehrere Frauen, die ihr Leben als Gefangene in riesigen Schlafsälen fristen müssen. Da ist die sehr junge Louise, die Hoffnungen auf Ruhm hegt, weil Charcot sie als interessantes Untersuchungs-Objekt auserkoren hat und ihr zudem ein junger Arzt schöne Augen macht. Beide werden sie am Ende ruinieren. Da gibt es Therese, eine ehemalige Prostituierte, die ihren Zuhälter umgebracht hat, jetzt einen Schal nach dem anderen strickt und froh ist, der für Frauen noch um einiges grausameren Welt da draußen entkommen zu sein. Die Hölle ist ihr Paradies. Und dann gibt es die strenge Oberaufseherin Genevieve, die die in der Psychiatrie lehrenden Ärzte bedingungslos verehrt, bis die zunächst unheimliche neue Patientin Eugenie ihr die Augen öffnet und bewusst macht, wie sehr sie willfährige Gehilfin eines grausamen Spiels ist.
Am Ende wird Genevieve alle Überzeugungen geopfert und alles aufgegeben haben, um zumindest ein Unrecht wieder gut zu machen.In Frankreich wurde der Roman von Viktoria Mas, der nun in zwölf Ländern erscheint, als bestes Debüt des Jahres ausgezeichnet. Und in der Tat ist es beeindruckend, wie geschickt die junge Autorin, Jahrgang 1987, die Schicksale ihrer äußerst unterschiedlichen, aber in der Unterdrückung vereinten Protagonistinnen zu einer anrührenden Geschichte über Mut, weibliche Solidarität und Aufbegehren verwebt. Wie sie ihren Opfern Persönlichkeit, Individualität und Würde gibt. Ihre „Tanzenden“ sind der Fiktion entsprungen – doch auch in der Realität brauchte es unzählige Frauen, die unter immensen persönlichen Opfern Geschichte umgeschrieben haben.
Sarah Brasack
Victoria Mas: „Die Tanzenden“, deutsch von Julia Schoch, Piper, 240 Seiten, 20 Euro, E-Book: 18 Euro.
Andreas Schäfer: „Das Gartenzimmer“
Am Ende steht es zum Verkauf, das „denkmalgeschützte Kleinod der Vormoderne, 280 Quadratmeter, acht Zimmer, Baujahr 1909“ und damit endet die faszierende hundertjährige Geschichte, die sich um eine Villa am Stadtrand von Berlin dreht. Das neoklassizistische Landhaus ist das erste Bauwerk des Architekten Max Taubert, der im Verlauf des 20. Jahrhunderts noch Weltruhm erlangen wird, mit dem sich die restlichen Romanfiguren stets schmücken. Dabei ist der – fiktive – Architekt, genau wie sein Bauwerk, stets Projektionsfläche und Fixpunkt der anderen. Er selbst ist ein schweigsamer Opportunist, der eigentlich nur berühmt sein will. Zuerst umrunden ihn der jüdische Philosophie-Professor Adam Rosen und seine Frau Elsa, das Paar sieht ihn als Ersatz für ihren im Wannensee ertrunkenen Sohn. Als Taubert sich Jahre später von seinem ersten Werk distanziert, sich künstlerisch neu erfindet und sich kurz mit dem Entwurf einer SS-Kameradschaftssiedlung bei den Nazis anbiedert, streichen sie ihn beleidigt aus allen Bauakten, Zeichnungen – und ihrem Leben.
Zeitsprung in die 90er-Jahre: Familie Lekebusch kauft das denkmalgeschützte Wohnhaus, saniert es aufwendig und und verwandelt es in einen Pilgerort für Architekturfans. Frieder Lekebusch hat sein Vermögen mit Generika, also günstigeren Kopien von Arzneimitteln, gemacht und will seine Lebensleistung mit einem Original aufwerten. Noch ernster nimmt seine Frau Hannah das Erbe: Sie veranstaltet wie einst Elsa Rosen Hauskonzerte und Führungen, schleift Politiker, Journalisten und Kunsthistoriker durch die Räume, spricht von „der architektonischen Struktur der Beete im Garten“, wie ihr Mann einmal spöttisch bei der Ehetherapie bemerkt. Die Gegenwartsgeschichte läuft in sprunghaften Erzählungen auf einen Abend zu, an dem Hannah endlich alle wichtigen Menschen in ihrem Haus vereint: Es kommen sogar ein Staatsminister und der portugiesische Botschafter, der für die Tochter ihrer Putzfrau ein Praktikum organisieren soll. An diesem Abend steht endlich jedes Möbelstück an der richtigen Stelle. Hannah hält auf dem Balkon wie auf der Brücke eines Schiffs das Kommando in der Hand, bereit, durch einen perfekt orchestrierten Abend zuführen, der ihr und ihrem Taubert-Haus endlich den Ruhm bringen soll, den sie beide verdient haben.
Der Leser ahnt es schon. An diesem Abend geht alles schief. Denn, wie ihr Sohn Luis ein Unwohlsein beschreibt, dass ihn im Haus überfällt, spürt auch der Leser, dass die Familie Lekebusch, anders als das Gebäude, eher nicht perfekt ist. Der pubertierende Luis haut mit der Tochter der Putzfrau ab, ihr Mann Frieder hält sich fortan an die von Hannah engagierte Opernsängerin. Hannahs Angst, dass das Haus sie letztendlich alle auseinanderbringen wird, wird wahr. Außerdem platzt die Illusion über ihre formvollendete Vorbesitzerin Elsa Rosen, der sie so gerne nacheifern wollte. Das Landhaus hat keinen Keller, die sprichwörtlichen Leichen liegen hier im Gartenzimmer.
Schade, dass Andreas Schäfer die Villa Rosen nur erfunden hat. Man würde diesen faszinierenden Ort, der die Widersprüchlichkeit der letzten hundert Jahre vereint, gerne einmal sehen. „In diesem Haus hat die Vergangenheit keinen Ort. Sie vergeht nicht“, sagt der Journalist Julius Sander auf der Party. Alles ist immer da: im Sonnenlicht strahlende Räume und dunkle, holzvertäfelte Nischen, meterlange Bücherregale und in Gläser eingelegte Augen, die aus medizinischen Versuchen des „NS-Instituts für Rassenhygiene“ stammen. Spätestens nach dieser Entdeckung ist nichts mehr perfekt.
Nadja Lissok
Andreas Schäfer: „Das Gartenzimmer“, DuMont Buchverlag, 352 Seiten, 22 Euro, E-Book: 17 Euro.
Kristof Magnusson: „Ein Mann der Kunst“
Gut, dass Ingeborg Marx ihren Sohn Constantin angerufen hat! „Du musst mich bei der Sitzung vertreten“, sagt die prinzipiell coole Psychoanalytikerin ausnahmsweise leicht angespannt am Telefon. Welche Sitzung? Na, die mit den Vertretern von Bund und Land, bei der es um den Erweiterungsbau für das Museum Wendevogel in Frankfurt gehen wird. Ingeborg ist die Vorsitzende des Fördervereins, der unbedingt einzubinden ist in die Beratungen der potenziellen Geldgeber. Doch nun muss sie einen Patienten ins Krankenhaus begleiten. So steigt Constantin in die Debatte um das Bauprojekt ein. Fortan lässt er uns als staunend-beredter Erzähler an einer herrlichen Schnurre aus dem Kulturbetrieb teilnehmen. Die staatlichen Repräsentanten sind überraschend schnell von der Einzigartigkeit des Plans überzeugt. Der Anbau soll allein einem Künstler gewidmet werden, der noch unter den Lebenden ist. Sein Name: KD Pratz. Der große Beuys-Schüler hat schon viele künstlerische Richtungsänderungen vollzogen. Er ist dem Vernehmen nach detailverliebter als Gerhard Richter, archaischer als Anselm Kiefer und expressiver als Georg Baselitz. Mit Marina Ambramovic hatte er eine kurze Liaison: „Die Clintons der Kunstwelt.“
Es war Ingeborgs Vorschlag gewesen, dem von ihr zutiefst verehrten „Malerfürsten“ diese prominente Präsentation zu ermöglichen. Allerdings schmückt sich bald schon Museumsdirektor Michael Neuhuber mit dieser Idee. Die Erweiterung scheint auf einem sehr guten Wege zu sein. Ärgerlich nur, dass der Förderverein noch nicht komplett überzeugt ist. So plädiert der einflussreiche Herbert von Drübber für Werke von Gudrun Pause und Sebastiao Salgado. Auch kämen zwei Rauminstallationen von Yoko Ono und die größte zusammenhängende Sammlung verschimmelter Objekte von Dieter Roth in Frage.
Doch dafür würden Bund und Land kein Geld geben – siehe oben. Jetzt kann nur noch eine exklusive Kontaktaufnahme helfen. Der Förderverein macht sich auf, um dem als sperrig und kontaktscheu geltenden Künstler einen Besuch auf seiner Burg Ernsteck im Rheingau abzustatten. Spätestens an dieser Stelle müssen wir uns allerdings aus der Nacherzählung ausklinken, um nicht den Spaß zu verderben, der jetzt so richtig losgeht: ein farbenfroher Reigen über dem Rhein.
Der Roman „Ein Mann der Kunst“ ist eine süffige Satire auf vollgepumpte Künstler-Egos und kreatives Interpretations-Gefasel. Nicht unerheblich sind in diesem Zusammenhang die Fragen nach Sexismus und Feminismus. Auch von Käuflichkeit ist die Rede. Und was ist das überhaupt – Kunst? Wie amüsant dieses Themenfeld sein kann, hatte Daniel Kehlmann mit seinem Roman „Ich und Kaminski“ (2003) gezeigt. Nun wird dieser Befund von Kristof Magnusson eindrucksvoll bestätigt. Der Autor legt in diesem Kunstbetriebsroman die Schwächen seiner Figuren bloß, doch bleibt er ihnen empathisch verbunden. Das Engagement wird nicht lächerlich gemacht, aber lustvoll auf seine Tiefgründigkeit getestet. Die Dialoge sitzen passgenau. Und die Dynamik, die sich aus der Begegnung mit dem Großkünstler ergibt, führt zu urkomischen Szenen.
Manche von ihnen wirken wie gemalt im rheinischen Stil. Da sitzen KD Pratz und Constantin Marx im Geländewagen mitten in den Weinbergen und lauschen der Bundesligakonferenz im Radio, was sich liest wie eine Reminiszenz an Ror Wolf. Dabei erfahren sie von Sabine Töpperwien, dass sich der FC im Derby gegen Düsseldorf prächtig schlägt: „Die Kölner Welt ist wieder rosa.“ Aber auch dieser Roman hat am Ende drei Punkte sicher.
Martin Oehlen
Kristof Magnusson: „Ein Mann der Kunst“, Kunstmann, 238 Seiten, 22 Euro. E-Book: 16,99 Euro. Der Roman erscheint am 12. August.
Colum McCann: „Apeirogon“
Eigentlich müssten sie Feinde sein, der Israeli Rami Elhanan und der Palästinenser Bassam Aramin. Ramis gelbes Nummernschild gibt ihm für sein schweres Motorrad die freie Wahl der Straße, Bassams grünes Schild zwingt ihn beim Verlassen der besetzten Stadt Anata auf eine Schlaglochpiste durchs Westjordanland.
Dieses Gefälle spiegelt sich in den Biografien: Der 67-jährige Israeli verdiente schon als junger Mann bestens mit seinen Reklamezeichnungen, während das zornige Besatzungskind mit 17 eine Handgranate warf, der Bassam sieben Jahre in israelische Haft brachte. Dass beide Männer heute jedoch Freunde sind und sich in der Verständigungsinitiative „Combatants für Peace“ engagieren, verdankt sich einer traurigen Gemeinsamkeit: Smadar Elhanan starb 2007 als 13-jähriges Mädchen durch einen palästinensischen Selbstmordanschlag in Jerusalem, die zehnjährige Abir Aramin wurde 2017 tödlich vom Gummigeschoss aus einem israelischen Militärjeep getroffen.
Es gibt diese Opfer tatsächlich, ebenso wie Ramis und Bassams Engagement für den Frieden. Der in New York lebende Ire Colum McCann macht sie nach langen Gesprächen nun zu Helden seines Romans „Apeirogon“. Doch bat er sich dichterische Freiheiten aus. Schon McCanns Meisterwerk „Die große Welt“ war ein brillantes Puzzle, und diesmal konstruiert er ein noch raffinierteres Kaleidoskop. In dessen dunklem Zentrum stehen die beiden Opfer, die aus immer neuen Blickwinkeln beleuchtet werden.
Doch was erzählt er nicht alles darum herum: vom (militärisch überwachten) Vogelflug über den besetzten Gebieten, von François Mitterrand, der kurz vor seinem Tod winzige Singvögel verspeiste, die „nach dem ewigen Blutvergießen der Menschheit“ schmeckten. Es geht um Waffen von der Steinschleuder bis zur Atombombe auf Nagasaki. Oder um den Sprengstoff Semtex, der eine ähnliche Farbe hat wie jenes Zuckerarmband, das sich Abir in der Schulpause kurz vor dem Schuss gekauft hatte.Diese Kunst der ausgezirkelten Abschweifung entfaltet der Autor in 1001 oft nur wenige Sätze umfassenden Kapitel. Womit sein Assoziationsgeflecht an Scheherazade erinnert, die in Tausendundeiner Nacht um ihr Leben erzählt. Schließlich bezeichnet „Apeirogon“ eine geometrische Form mit einer „zählbar unendlichen Menge von Seiten“.
Mag sein, dass McCann sein Recherche-Füllhorn etwas überladen hat. Doch wenn es ums Ganze geht, ist seine Detailsucht ein Glücksfall. Beide Mädchen werden in ihrer jungen Unbekümmertheit so lebendig, dass diese ausgelöschten Existenzen eben nicht als Kollateralschäden eines ewig köchelnden Konflikts erscheinen, sondern als unerträgliche Tragödien. Und dann die Eltern: Die Marter, die Bassam im Krankenwagen erlebt, als er mit seinem schwer verletzten Kind stundenlang im Checkpoint-Stau steckt. Oder die panischen Gedanken, die Rami und seine Frau Nurit heimsuchen, als sie vom Anschlag hören und ihre Tochter nicht erreichen. Diese Momente sind so einfühlsam beschworen, dass man jede Emotion nachempfindet – auch den Hass. Ramis Rachsucht gilt zunächst allen Palästinensern, bis ihm klar wird, wie viele von ihnen sein Schicksal teilen. Und Bassam schert sich anfangs kein bisschen um den Holocaust, bis er dessen Grauen begreift.
„Es wird erst vorbei sein, wenn wir reden“, steht auf Ramis Motorrad. Und sein Freund ist überzeugt: „Ich muss die Kraft meines Schmerzes einsetzen.“ Das ist beiden Männern ebenso gelungen wie dem großartigen Colum McCann.
Hartmut Wilmes
Colum McCann: „Apeirogon“, deutsch von Volker Oldenburg, Rowohlt, 608 Seiten, 25 Euro, E-Book: 22,99 Euro.