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Kurt Tallerts Vater überlebte den Holocaust„Ich kann die Geschichte nicht reparieren“

Lesezeit 8 Minuten
Kurt Tallert trägt eine blaue Mütze und lächelt

Kurt Tallert hat ein Buch über seinen Vater geschrieben.

Kurt Tallert, als Musiker bekannt geworden als Retrogott, hat ein Buch über seinen Vater geschrieben, der von den Nazis als sogenannter Halbjude verfolgt wurde.

Herr Tallert, seit vielen Jahren machen Sie als Retrogott erfolgreich Musik. Nun haben Sie ein Buch über die Geschichte Ihres Vaters geschrieben, der als sogenannter Halbjude von den Nationalsozialisten verfolgt wurde. Er war schon 58, als Sie 1986 geboren wurden, und als er starb, waren Sie knapp 12. Warum haben Sie sich jetzt dazu entschlossen, ein Buch darüber zu schreiben?

Kurt Tallert: Ich habe früh davon erfahren, mit sechs Jahren. Ich hatte zwar immer ein persönliches Interesse an der Geschichte meines Vaters, aber der Moment, in dem ich selbst zum ersten Mal Vater geworden bin, hat die Frage aufgemacht: Wer war mein Vater? Was habe ich für eine Vorstellung vom Vatersein? Das führte wieder zu einer Auseinandersetzung mit ihm. Was hat er mir mitgegeben? Was davon gebe ich vielleicht meinen Kindern weiter? Ich wusste immer, dass mein Vater Briefe an seine Schwester und seine Mutter geschrieben hat, als er im Konzentrationslager inhaftiert war. Meine Mutter hat mir diese Briefe aber nie gezeigt, und irgendwann ist dieses Interesse abgeklungen. Als das Thema wieder hochkam, habe ich sie immer wieder danach gefragt, aber für sie war es emotional zu belastend, sich damit noch mal auseinanderzusetzen.

Wie kam es, dass sie Ihnen die Briefe dann doch gab?

Ein paar Jahre später ist das Haus meiner Mutter abgebrannt. Das war der Moment, in dem sie mir die Briefe gegeben hat. Als ich sie und die vielen Notizen meines Vaters gelesen habe, habe ich festgestellt, dass er selbst darüber schreiben wollte. Er hat an etwas gearbeitet, hat es aber nicht zu Ende bringen können. Das war für mich ein Auftrag, damit etwas zu machen.

Ich habe am wenigsten Zeit mit meinem Vater verbracht. Ich war am meisten darauf angewiesen, mir den Vater geistig zu erschließen.
Kurt Tallert

Sie haben noch drei Geschwister. Warum haben Sie sich intensiver mit der Geschichte Ihres Vaters auseinandergesetzt als sie?

Ich habe am wenigsten Zeit mit meinem Vater verbracht. Ich war am meisten darauf angewiesen, mir den Vater geistig zu erschließen. Da hat die Auseinandersetzung mit seiner Verfolgungsgeschichte ziemlich viel Raum eingenommen. Ich bin auch der Einzige, der einem künstlerischen Beruf nachgeht. Da liegt es näher, sich mit Sachen zu beschäftigen, die in einem schlummern. Aber ich glaube nicht, dass meine Geschwister damit besser fertig geworden sind. Damit wird man nicht fertig.

Das Stichwort Absurdität begegnet einem immer wieder beim Lesen des Buches. Inwieweit war das Erkennen und auch das Benennen der Absurdität für Sie wichtig, um einen Umgang mit dieser Geschichte zu finden?

Sie war ein Teil gedankliches Geländer, um das einordnen zu können. Das ist aber auch etwas, das ganz konkret auf eine Notiz meines Vaters zurückgeht: Er schreibt von der „Absurdität der Nazis“. Mir wurde bewusst, dass es etwas ist, was ihm nachging, das Grausame, das Ungerechte, das Furchtbare, das nicht nur ihm, sondern Millionen von Menschen widerfahren ist. Aber inmitten dessen aufzuwachsen, hat ihm einen Bereich der Menschlichkeit erschlossen, wo das Absurde ein treffender Begriff ist. Gleichzeitig geht es auch darum, eine Lanze zu brechen für das Absurde.

Warum?

Natürlich nicht in diesen Ausprägungen von Hass und Sadismus, aber als etwas, das nicht in die vorgegebene Vorstellungswelt passt. Mein Vater hat sich selbst als etwas Absurdes empfunden, als er versucht hat, Mitglied der sogenannten Volksgemeinschaft zu werden und dann gemerkt hat, dass er nicht die Grundvoraussetzungen erfüllt. Dieses Nichterfüllen ist aber etwas Gutes. Nicht einzig und allein einer Identität zugeordnet werden zu können, sollte nichts Problematisches sein.

Da er ja gewissen Schutz hatte im Vergleich zu einigen nächsten Verwandten, muss er aus dieser Situation heraus im Nachhinein große Schuldgefühle gehabt haben.
Kurt Tallert

Was haben Sie aus diesem Identitätskonflikt Ihres Vaters gelernt?

Es macht deutlich, wie verheerend es ist, wenn man Menschen in die Situation bringt, dass ihre Identität zu einem Ausschlusskriterium wird. Und da er ja gleichzeitig gewissen Schutz hatte im Vergleich zu einigen nächsten Verwandten, muss er aus dieser Situation heraus im Nachhinein große Schuldgefühle gehabt haben. Mir ist es aber wichtig, bei dem Punkt nicht stehenzubleiben, also nicht zu sagen ‚Er war ja gar kein richtiger Jude‘. Klar ist: Diese Kategorie des ‚Halbjuden‘ gibt es im Judentum nicht. Dennoch waren Menschen wie mein Vater immer noch jüdisch genug, um verfolgt zu werden. Deshalb sagt auch die ambivalente Bedrohung, der sich ein sogenannter Halbjude damals ausgesetzt sah, vor allem etwas über den damaligen Antisemitismus in Deutschland und das jüdische Leid aus dieser Zeit.

Sich nicht vollständig zu fühlen, halb zu sein, ist ein großes Thema Ihres Vaters.

Er hat versucht, sich nach dem Krieg so konstruktiv wie es nur ging einzubringen. Das hat er von außen betrachtet recht erfolgreich betrieben. Er hat eine journalistische Laufbahn hingelegt, ist in die Politik gegangen, hat ein Bundesverdienstkreuz erster Klasse erhalten. Aber er ist während der Nachkriegszeit immer wieder Menschen begegnet, die eine einschlägige Nazivergangenheit hatten und trotzdem Führungspositionen innehatten.

Das hat ihm verständlicherweise sehr zugesetzt.

Das und der Antisemitismus, der ja nie ganz abgeklungen ist. Wie Menschen über das Ende des Krieges redeten, ist er nie losgeworden. Und gleichzeitig war ihm immer bewusst: ‚Nein, ich bin kein Jude, wo soll ich mich eigentlich zugehörig fühlen?‘ Ich glaube, das hat ihn bis ans Ende seiner Tage beschäftigt, und es beschäftigt auch mich immer noch. Von einem orthodoxen Standpunkt aus habe ich damit nichts zu tun. Aber ich bin Nachfahre erster Generationen von jemandem, der den Holocaust überlebt hat. Und so unjüdisch mein Vater war, zwingt mir das fast eine Solidarität auf.

Wie sehr hat er diese existenzielle Verunsicherung an Sie weitergegeben?

Das ist eine wichtige Frage, die ich aber bis heute nicht zu beantworten weiß. Ich beschreibe im Buch meine Probleme, im Kindergarten anzukommen. Das hat sich in der Schule fortgesetzt. Da ist etwas, das schwer zu überbrücken ist. Ich hatte immer große Probleme, mich in Gruppen einzuordnen und mit Autoritäten. Vielleicht ist auch deshalb Kunst für mich ein gutes Ventil gewesen.

Warum hat sie geholfen?

Hiphop war für mich gerade in der Zeit, in der ich meinen Vater verloren habe, die Ersatzautorität, der ich mich dann doch untergeordnet habe, an deren Regeln ich mich gehalten habe. Und gleichzeitig kamen dort Narrative vor, die auch mit Ausgrenzung, mit Gewalt, mit Diskriminierung zu tun hatten und die Dinge aus der Geschichte thematisierten, die andere gar nicht auf dem Schirm hatten. Das hat mir damals sehr imponiert, und es hat mir sehr viel gegeben.

Ich kann die Geschichte nicht reparieren, aber dieses Buch hat den Anspruch, einen Raum zu schaffen, innerhalb dessen die Trauer darüber möglich ist.
Kurt Tallert

Haben Sie sich einsam gefühlt, weil Gleichaltrige Ihre Konflikte nicht nachvollziehen konnten? Beim Besuch einer KZ-Gedenkstätte haben Ihre Mitschüler vor allem darüber nachgedacht, was sie hinterher bei McDonald’s essen wollen.

Nach außen hin führte das erstmal zu gar nichts. Nach innen gab es zwei Extreme: Ich wollte mich vor alle stellen und ihnen sagen, wie pietätlos sie waren und dass sie sich schämen sollten. Das andere Extrem sagte entschuldigend, sie können nichts dafür, dass Sie diesen Horizont nicht haben, den du hast. Und da war auch die Erkenntnis, dass Versuche, irgendwen zu belehren, nichts bringen würden. Das ist auch etwas, das mein Vater festgehalten hat. Von der einen zur anderen Generation sei das nicht zu vermitteln. Da bleibt immer ein Rest an unerklärbarem, schwer zu vermittelndem Schmerz.

Wie gehen Sie damit um?

Ich kann die Geschichte nicht reparieren, aber dieses Buch hat den Anspruch, einen Raum zu schaffen, innerhalb dessen die Trauer darüber möglich ist und wo man den Abgrund Abgrund sein lassen kann und ihn nicht zuschütten muss mit Aufarbeitungsphrasen.

Haben Sie manchmal Angst, Ihren Vater auf die Rolle des Verfolgten zu reduzieren und ihm als Mensch nicht gerecht zu werden?

Ja, auf jeden Fall. Und das war auch etwas, was ihn sehr beschäftigt hat. Er hatte immer ein großes Problem damit, als traumatisierte Person angesprochen zu werden oder als jemand, der eine posttraumatische Belastungsstörung, ein KZ-Syndrom oder Überlebenden-Schuld hat. Diese Begriffe waren für ihn ein rotes Tuch. Er wollte respektiert werden. Da ist er vielleicht ein Stück weit vor etwas weggelaufen. Es war sicher nicht immer heilsam, möglichst stark und gesund wirken zu wollen.

Nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 zeigte sich, wie tief der Antisemitismus noch immer in der deutschen Gesellschaft verwurzelt ist. Sie haben sich für Ihr Buch jahrelang mit diesen Themen befasst. Haben Sie die Reaktionen überrascht?

Wie Menschen unmittelbar nach dem 7. Oktober mit holzschnittartigen Analysen um sich warfen, um das zu rechtfertigen, um nicht zu sagen, es pseudointellektuell zu beklatschen, fand ich schockierend. Da sind Juden Opfer, wir sprechen vom größten Pogrom seit 1945, und den Leuten fällt unheimlich viel dazu ein, alle sind auf einmal Historiker. Sonst schreiben sie „Je suis Charlie Hebdo“ oder welcher Hashtag auch immer, aber Israeli will niemand per Hashtag sein.

Nun würden Ihnen vermutlich viele vorwerfen, einseitig Partei zu ergreifen.

Das war noch vor der Militäroffensive seitens der Israelis. Ich verteidige damit nicht die Vorgehensweise des israelischen Militärs. Ich verteidige damit nicht die Art, wie das Westjordanland besetzt wird. Ich rede über einen Affekt, über eine Art, auf Gewalt gegen Juden zu reagieren seitens Menschen, die weder jüdisch noch palästinensisch sind. Das lässt bei mir Alarmglocken läuten. Ich habe den Eindruck, da ist etwas hochgekommen. Das ist ja nichts Neues. Man kann schon bei Jean Améry nachlesen, wie sich das Verhältnis der Linken zu Israel komplett gewandelt hat nach dem Sechstagekrieg. Dieser Antizionismus als Chiffre für Antisemitismus beschäftigt mich sehr, auch wenn ich kein Jude bin.


Kurt Tallert wurde 1986 in Bad Honnef geboren und studierte Germanistik und Hispanistik in Aachen und Santiago de Chile. Unter dem Künstlernamen Retrogott prägt er als Rapper, DJ und Produzent seit mehr als zwanzig Jahren die deutsche Hip-Hop-Szene und veröffentlichte zahlreiche Alben. „Spur und Abweg“ (DuMont, 240 Seiten, 24 Euro) ist sein schriftstellerisches Debüt.

Das ganze Gespräch mit Kurt Tallert können Sie im Podcast „Talk mit K“ hören, den Sie auf allen Podcastplattformen und unter ksta.de/podcast finden.