Bei Markus Lanz ging es am Dienstabend um die Razzien gegen die „Reichsbürger“-Szene. Die Gäste sprachen von erschreckenden Erkenntnissen.
Lanz-Gast über „Reichsbürger“„Müssen aufhören, über den wirrsten Typen mit dem blödesten Hut zu sprechen“
Zu Gast beim ZDF-Talk mit Markus Lanz waren am Dienstagabend SPD-Chef Lars Klingbeil, „faz“-Journalistin Helene Bubrowski, Politologe Wolfgang Merkel und Autor Tobias Ginsberg. Neben der Analyse der „Reichsbürger“-Szene ging es auch um den Korruptionsskandal um die griechische Abgeordnete Eva Kaili, der das Europäische Parlament erschüttert. Zu der Affäre sagte SPD-Chef Klingbeil, das alles klinge wie ein „schlechter Krimi“, aber es sei natürlich in Wahrheit schwer kriminelles Handeln, das dahinerstehe. Er sei geschockt gewesen, als er erstmals von den Ermittlungen gegen die Angehörige der sozialdemokratischen Fraktion erfahren habe.
Politologe Merkel meinte, die Affäre sei ein Schlag nicht nur gegen die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union, sondern auch gegen das Parlament. Er hätte sich gewünscht, dass andere Parlamentarierinnen und Parlamentarier eindeutiger Position beziehen. Ginsberg sagte, für EU-Gegner und Verschwörungstheoretiker sei der Vorgang „ein gefundenes Fressen“.
Lars Klingbeil spricht von „ernsthafter Bedrohung“ durch „Reichsbürger“
Klingbeil warnt mit Blick auf die jüngsten Razzien gegen sogenannte Reichsbürger davor, die Szene zu unterschätzen. „Man muss aufpassen, wo sich bestimmte Muster, Erklärungen, Narrative, Verteidigungslinien in die Gesellschaft einschleichen“, sagt Klingbeil. „Man muss von Anfang an ein Stoppschild setzen und sagen: bis hierhin und nicht weiter!“ Für Menschen, die unsicher seien, wie sie sich gesellschaftspolitisch aufstellen, könnten solche Leute eine „ernsthafte Bedrohung“ sein. Es sei richtig, dass der Staat hier wachsam sei. Das seien nicht alles Spinner. Das demokratische System habe aber nicht kurz davor gestanden, umgestürzt zu werden, räumt Klingbeil ein. „Das ist stabil“, betont der SPD-Chef.
Ginsberg hat sich über mehrere Monate in die „Reichsbürger“-Szene eingeschleust. Er spricht von einer heterogenen Gruppe von unter anderem Esoterikern, AfD-Politikern und altbekannten Nazis, die sich schon vor Jahren um die rechte Verschwörungstheorie der „illegitimen BRD“ herum gesammelt hätten. Durch Corona habe die Szene einen Schub bekommen. „Dass sich die Leute jetzt bei diesem traurigen Adeligen auf dem Schlösschen getroffen haben, kam nicht so sehr überraschend“, meint Ginsberg mit Bezug auf den festgenommenen Prinz Heinrich XIII. Reuß.
Tobias Ginsberg: „Reichbürger“ und Neonazis als fast schon „ästhetische Kategorie“
Lanz möchte wissen, ob es sich um Leute handelt, die alle einen „Bruch in ihrer Biografie“ haben, die „einfach Pech hatten im Leben“. Diese Leute gebe es tatsächlich, sagt Ginsberg. Naive und verzweifelte Menschen würden angezogen, aber es gebe eben auch organisierte Neonazis, die plötzlich als „Querdenker“ aufgetreten seien.
Bobrowski sagt, es sei schwer für den Staat, bei so einer Gemengelage richtig zu reagieren. „Der Verfassungsschutz hat schon gar keine Kategorie mehr, in der er die Menschen richtig einordnen kann“, meint sie. Es gebe „zwar echt schauerliche Figuren, mit denen man nichts zu tun haben möchte, aber die sind letztlich harmlos", sagt die Journalistin. Verrückt sein sei nicht verboten, meint Bobrowski, es gehe darum, zu erkennen, wer gefährlich sei.
Ginsberg widerspricht: Dafür müsse man endlich aufhören, von „Reichbürgern und Neonazis als eine fast schon ästhetische Kategorie“ zu sprechen. Daran seien auch die Medien nicht unschuldig. Es sei halt leichter, einen Fünfminuten-Beitrag „über den kuriosesten, schrillsten, wirrsten Typen mit dem blödesten Hut zu machen, der sagt, ich bin jetzt der Kaiser, während halt die Leute, die die größte Gefahr darstellen, extrem bürgerlich daherkommen", warnt Ginsburg. Wer mehr Grips habe und einen Status zu verlieren habe, werde sich nicht als Reichsbürger outen und seinen Reisepass verbrennen.
Wolfgang Merkel spricht über Gendern und „linksliberale“ Debatten
Politologe Merkel meint, die reale Gefahr eines Umsturzes sei aus seiner Sicht gering. Es gebe aber eine Gefahr für einzelne Politikerinnen und Politiker. Er sieht Probleme in einer allgemeinen Politikverdrossenheit und spricht von einer Zweidrittel-Demokratie. Ein Drittel der Bevölkerung werde vom demokratischen Diskurs nicht erreicht. Die unteren 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung würden sich nicht für Politik interessieren, diese gingen nicht einmal mehr zum Wählen.
Lanz fragt, ob sich viele von den aktuellen Debatten in Deutschland nicht abgeholt und bevormundet fühlten. Damit rennt er bei Merkel offene Türen ein. Klar sei es politisch wichtig, Minderheiten Gehör zu verschaffen. Allerdings habe man zu viel über die „Genderisierung der Sprache“ und über „Trans-Menschen“ gesprochen, also „Feuilleton-Diskurse“ in der Politik gehalten. Er nennt das „Arroganz“. Die Linksliberalen – Merkel nimmt sich selber nicht aus – seien nicht ganz unschuldig am Aufstieg der Rechtspopulisten. (cme)