Lesebuch mit unbekannten TextenKölner Autor Dieter Wellershoff von einer neuen Seite
Köln – „Er sieht in ihren Augen eine entsetzte Sehnsucht, eine wilde rückhaltlose Hingabe, und das reißt ihn aus seiner Routine, seiner Lethargie. Sie errät alle seine Wünsche. Und sie ist es, die ihm sagt, dass sie mit ihm leben will. Indem sie es ausspricht, bringt sie seine Phantasie in Bewegung. Er will noch einmal leben, phantastisch, hingerissen. Er will alles tun, was er früher einmal versäumt hat, mit einer anderen Frau.“
Diese Geschichte einer amour fou zwischen einem End-40er und einer 19-jährigen – Arbeitstitel: „Herbstfeuer“ – wurde nicht geschrieben. Erhalten im Nachlass hat sich nur der hier zitierte Entwurf, der als solcher bereits Anlass genug gibt, die Nicht-Ausarbeitung zu bedauern. Der Autor? Wer sich mit den Themen, Motiven, dem Schreibstil des Verfassers auskennt, wird wahrscheinlich schnell auf ihn kommen, literarisches Topfschlagen ist nicht notwendig.
Fast vier Jahre nach seinem Tod also erscheint jetzt unter dem Titel „Verborgene Texte des Lebens“ ein „Lesebuch“ mit teils (wenngleich mitunter an abgelegenen Orten) publizierten, teils aber eben auch unveröffentlichten Arbeiten des Kölner Romanciers, Essayisten und Literaturtheoretikers Dieter Wellershoff. Werner Jung, Germanistik-Professor an der Uni Duisburg/Essen und Ko-Editor der Wellershoff-Werkausgabe bei Kiepenheuer & Witsch, hat den stattlichen, schön aufgemachten und mit vielen Fotodokumenten versehenen Band in mutmaßlich enger Kooperation zumal mit Wellershoffs Tochter Irene herausgegeben und mit einer einordnenden Einleitung versehen. Nicht zuletzt die Bilder, darunter viele von Wellerhoffs langjährigem Domizil, der Altbauwohnung in der Mainzer Straße, stiften die starke, aber nicht aufdringliche Atmosphäre familiärer Privatheit – wie dies auch Irene Wellershoffs „Erinnerungen an meinen Vater“ im Anhang tun.
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Diesen Akzent setzt bereits die Covergestaltung. Da sieht man Dieter Wellershoff zweimal auf der nämlichen Brücke in Bad Honnef – einmal 1929, als Vierjährigen, dann 2000, als 75-jährigen. Charakter, Qualität und Stil der Fotos verändern sich mit der Zeit, und sei es dadurch, dass das Schwarz/Weiß- irgendwann dem Farbbild weicht. Und es ändert sich selbstredend der Porträtierte, in dessen personalem Habitus sich auch die Metamorphosen des Zeitgeistes spiegeln: der Nazijahre, die 50er Jahre, die 68er Periode, die 80er und die Nuller Jahre. Sie führen dem Leser eindringlich vor Augen, dass dieses Leben, das mit 92 zu Ende ging, tatsächlich fast ein Jahrhundert umfasste. In diesem Sinne wird sich der Autor am Ende selbst ein Stück weit historisch geworden sein.
Suggestive Verlebendigung
Wer Wellershoff persönlich gekannt hat, dem kommt er mit diesem Buch noch einmal auf bewegende, weil ihn suggestiv verlebendigende Weise nahe. Für die Textauswahl gilt das genauso wie für die Bilder. Heterogenes ist hier versammelt, sinnfällig biografisch-chronologisch in sechs Kapiteln geordnet: „Kindheit und Jugend“, „Kriegsjahre“, „Neuanfang, Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder“, „Lektoratsjahre und er schriftstellerische Beginn“, „Der freie Autor“, „Das Alter“. Neben Vorträgen, Ansprachen und Kurzessays, Auszügen aus Büchern wie „Die Arbeit des Lebens“, Gedichten, Skizzen und Entwürfen sind viele Briefe an Prominenz (Helmut Kohl) und Nicht-Prominenz darunter – an Kollegen (Günter Grass, Günter Herburger) und Literaturwissenschaftler (Benno von Wiese, Wolfgang Iser), vor allem aber auch an „einfache“ Leser, mit denen sich der Adressat bereitwillig über die Interpretation seiner Bücher austauscht, die er aber auch berät, wenn sie ihm, stimuliert durch Wellershoff-Lektüre, mit ihren eigenen Lebensproblemen aufwarten.
Tatsächlich scheint dieser Autor wie nur wenige andere seinen Lesern ein „Tua res agitur“-Gefühl vermittelt zu haben – es sind die je eigenen Sinn- und Lebenskrisen, Erwartungen und Enttäuschungen, die er im Simulationsraum seiner Bücher gestaltete. Dies mag der Grund dafür sein, dass – die erneute Befassung mit ihm vermag es zu zeigen – dieser Autor im Unterschied zur moralisierenden und politisch engagierten Mainstream-Literatur der alten Bundesrepublik nicht veraltet wirkt.
Beispiele katastrophalen Scheiterns
Wie individuelle Existenz gelingen kann in einer hochkomplexen modernen Lebenswelt, in der es keine etabliert-hilfreichen Rollenmuster und verbindlichen Deutungskonzepte mehr gibt – diese Frage stellt Wellershoff notorisch in seinen Romanen und Erzählungen. Und sei es dadurch, dass er sie ex negativo beantwortet, virulent werden lässt an Beispielen katastrophalen Scheiterns.
Gerade die unbekannten Texte – darunter die komplett ausgeführte Erzählung „Inszenierung eines Traumpaars“ von 1991 – sind in diesem Sinne einigermaßen faszinierend, weil sie dartun, wie beharrlich der Verfasser am nämlichen Gegenstand bleibt, ohne darüber in langweilende Selbstzitate zu verfallen. Aber wer den „Liebewunsch“ oder „Die Sirene“ kennt, wird die Themenverwandtschaften in Erzähl-Exposés wie „Die Schlachtordnung“, „Kurze Abweichung vom Wege“ oder „Die Außenseiter“ unschwer erkennen. So formiert sich im Horizont dieser bislang unpublizierten Texte noch einmal nicht weniger als die überzeugende Einheit eines literarischen Lebenswerkes.
Zugleich stellt sich in diesem „Wellershoff post mortem“ eindringlich dar, wie dieses Leben durch Literatur, durch Textproduktion dominiert, ja okkupiert war. Mit einiger Betroffenheit liest man Irene Wellershoffs Sätze über die letzten Jahre ihres Vaters: „Erst Mitte 80 versiegte sein Energiefluss allmählich. Ein Albtraum für ihn, für den Schreiben Leben war. [...] Meine Mutter sagte nach seinem Tod, er sei daran gestorben, dass er nicht mehr schreiben konnte. Da hätte er den Lebenswillen verloren.“
Werner Jung (Hrsg.), „Verborgene Texte des Lebens“. Dieter Wellershoff – ein Lesebuch“, Aisthesis Verlag, 350 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 28 Euro