Sabine Leutheusser-Schnarrenberger war Bundesjustizministerin und ist nun Antisemitismusbeauftragte des Landes NRW. Wir haben mit ihr über Judenhass in der Kulturszene gesprochen.
Leutheusser-Schnarrenberger„Auch durch den Antisemitismus wird die Kunstfreiheit verletzt“
Würden Sie sagen, der deutsche Kulturbetrieb hat ein speziell ausgeprägtes Antisemitismusproblem?
Ich möchte dem Kulturbetrieb jetzt nicht pauschal einen Hang zum Antisemitismus unterstellen. Aber Kulturschaffende kritisieren ja eher bestehende Verhältnisse und sind von daher stärker im linken Spektrum und gegen Israel verortet. Und wenn wir uns beispielsweise die Documenta anschauen oder die Berlinale - dann sind antisemitische Vorstellungen oder Vorbehalte gegen Israel nicht von der Hand zu weisen. Es ist vielleicht auch teilweise ein einseitigerer Zugang zum Schicksal und zum Leben von Palästinenserinnen und Palästinensern. Und damit verbunden häufig antisemitische Haltungen. Bei manchen Kultureinrichtungen gibt es auch tatsächlich eine Nähe zur BDS - der Boykott-Bewegung gegen Israel.
Haben Sie die Kulturszene nach dem Angriff der Hamas als zu zurückhaltend wahrgenommen?
Ja, es war doch sehr, sehr ruhig. Und ist es teilweise auch immer noch. Von vielen Theatern oder Museen hat man nach dem Angriff der Hamas gehört, man wolle sich lieber zurücknehmen und sehe nicht zuallererst die Aufgabe darin, sich politisch zu äußern. Wobei ich denke, dass es hier zuerst um eine Frage der grundsätzlichen Haltung, in einer grundlegenden Frage geht, die Deutschland seit Jahrzehnten betrifft und in Zukunft immer betreffen wird.
Der Anspruch, politisch neutral zu bleiben, überzeugt Sie nicht?
Es sind doch gerade Kultureinrichtungen mit Ausstellungen oder Theaterstücken Orte der Auseinandersetzung, auch des politischen Diskurses. Das Zusammenleben von Palästinensern und Juden oder allgemein interreligiöse Dialoge – das sind doch die Themen, die auch auf den Bühnen und in der Kunst immer wieder eine Rolle spielen. So richtig überzeugt es mich also nicht, wenn gesagt wird: „Eigentlich sind wir vollkommen fern und wir haben damit eigentlich gar nichts zu tun.“ Wie oft ist nach dem Angriff auf die Ukraine auch aus dem Lager der Kultur die ukrainische Flagge gehisst worden? Das war vollkommen unstreitig. Und wenn man sich also mit politischen Verhältnissen oder mit Menschenrechtsverletzungen befasst, dann denke ich, war der 7. Oktober definitiv ein Anlass, eine Haltung zu formulieren und Flagge zu zeigen.
Apropos Flagge zeigen, im öffentlichen oder im digitalen Raum – ist sowas für Sie denn mehr als bloße Symbolpolitik?
Ich finde das eine gute Art, Solidarität zum Ausdruck zu bringen, das würde ich nicht so negativ als Symbolpolitik abtun. Nach meinen vielen Gesprächen mit jüdischen Gemeinden weiß ich, welche große Rolle das Gefühl dort spielt, dass in unserer Gesellschaft wahrgenommen wird, was der Angriff der Hamas und der Krieg im Nahen Osten für die Jüdinnen und Juden hier bedeutet. Das Gefühl, in so einer fürchterlichen Situation verstanden zu werden und Mitgefühl zu spüren, zum Beispiel, wenn wir gegen Judenhass demonstrieren, ist sehr bedeutend.
Was halten Sie davon, Theaterstücke zu verbieten, Ausstellungen abzusagen oder umstrittene Preisträger*innen oder Autor*innen auszuladen?
Schon vor dem 7. Oktober hatten wir ja eine Debatte um das Stück „Vögel“ am Kölner Schauspiel. Ich habe mit dem Intendanten gesprochen und ich bin nicht dafür, Theaterstücke zu verbieten. Aber ich finde es gut, wenn man entweder in einer Einführung oder hinterher über das Stück diskutiert mit den Schauspielern, mit dem Regisseur oder dem Intendanten. Das hat dann einen Mehrwert, wenn die unterschiedliche Wahrnehmung der Zuschauerinnen und Zuschauer den Akteuren vermittelt wird. Solche Auseinandersetzungen wünsche ich mir mehr im Umgang miteinander.
Über den Krieg im Nahen Osten wird in Deutschland ja leidenschaftlich gestritten. Ist das nicht auch Aufgabe des Kulturbetriebs, das abzubilden und auch provozierende Äußerungen aus unterschiedlichen politischen Richtungen zuzulassen? Wo verläuft für Sie da die Grenze?
Wenn man Judenhass mit Israelkritik gleichsetzt, ist für mich eine Grenze überschritten. Trotzdem kann man natürlich diskutieren - auch über das, was jetzt im Gaza passiert und auch über die israelische Politik. Zu kritisieren, dass Netanjahu mit seiner Siedlungspolitik eine Zwei-Staaten-Lösung immer schwieriger macht, das ist nicht antisemitisch. Aber wenn man sagt, Israel habe kein Existenzrecht, sei eine reine Kolonialmacht, die nur Gebiet besetze, dann ist für mich die Grenze eindeutig überschritten.
War das für Sie bei der Berlinale auch der Fall?
Bei der Preisverleihung war die Grenze für mich in manchen Äußerungen schon überschritten - gerade in denen von Regisseur Ken Russel. Und man muss sich schon überlegen: Wo klatsche ich und wo klatsche ich nicht? Es war dort ja ein internationales Publikum, das teilweise einen anderen Zugang zu dem Thema hat. Aber die Verantwortung für die deutsche Geschichte kann bei uns auch nicht bei einer internationalen Preisverleihung ausgeblendet werden. Ich hätte mir gewünscht, dass jemand auf die Bühne gegangen wäre und klar gemacht hätte, was unsere Haltung in Deutschland zu dem Thema ist. Hinterher kann jeder viele wohlfeile Worte finden.
Künstler*innen werden ausgeladen, Veranstaltungen abgesagt oder sie finden unter Polizeischutz statt - hätten Sie das zu Beginn Ihrer Aufgabe als Antisemitismusbeauftrage für möglich gehalten?
Das wundert mich ehrlich gesagt nicht. Die Dimension war natürlich vor dem 7. Oktober eine andere. Aber die BDS-Bewegung, die jedes Gespräch mit Israel verweigert, war auch da schon aktiv und hat demonstriert. Nur jetzt ist es deutlich heftiger geworden. Ich finde es schade und traurig, dass wir für Veranstaltungen Polizeischutz brauchen, dass Vorlesungen an Universitäten aus Sicherheitsgründen abgebrochen werden. Ich glaube, es ist aller Mühen wert, sich schon im Vorfeld auf mögliche Konflikte vorzubereiten. Um dann eine Veranstaltung nicht abbrechen zu müssen. Es gibt kein Recht, andere durch Stören oder Protestieren mundtot zu machen.
Sehen Sie da die Gefahr, dass die Debattenkultur leidet - in beide Richtungen?
Ja, das befürchte ich tatsächlich. In so einer emotionalisierten Situation, wie wir sie gerade in Deutschland erleben, kann kaum Diskurs mit Argumenten, kein echter Austausch mehr stattfinden. Leider sehe ich das auf beiden Seiten: Entweder wird sehr emotional reagiert oder Betroffene ziehen sich völlig zurück. Das ist eine ganz negative Entwicklung, weil Demokratie vom Aushandeln lebt. Davon, Respekt den anderen gegenüber zu haben. Wenn diese Diskussionskultur leidet, dann ist das auch eine Schwächung für unsere Demokratie.
Ist es nicht natürlich, dass wir in Deutschland sehr emotional auf das Thema Antisemitismus reagieren?
Ich hab nichts gegen Empathie – wobei mir manche Reaktionen zum Beispiel auf das bestialische Ermorden vieler Menschen von der Hamas eher ziemlich eiskalt erschienen und wenig empathisch. Aber natürlich ist es mit unserer Geschichte in Deutschland mit diesem schlimmsten Menschheitsverbrechen eine besondere Situation. Mit allem, was das an Verpflichtungen und an Problemen mit sich bringt. Da kann man nicht sagen: Jetzt hört mal auf mit diesem Holocaust! Das war ein Grundgedanke bei der Einführung des Straftatbestandes. Da geht nicht nur um das Leugnen, sondern auch um das Verharmlosen. Zum Beispiel, wenn sich jemand in der Corona-Pandemie als Ungeimpfter in eine Reihe stellt mit den Opfern des Holocaust.
Sollte finanzielle Unterstützung für Kultureinrichtungen gekoppelt sein an bestimmte politische Haltungen?
Das ist ein schmaler Grat. Die Verpflichtung von Politikern, nicht auf Inhalte von Kunst einzuwirken, hat einen großen Stellenwert. Das ist ein ganz wichtiges Gut und die Meinungsfreiheit ist im Grundgesetz genauso geschützt wie die Kunstfreiheit. Ich finde es bemerkenswert, dass gerade diejenigen die Kunstfreiheit verletzt sehen, die sich antisemitisch äußern - wie bei der Documenta. Ich meine, auch durch den Antisemitismus wird die Kunstfreiheit verletzt, denn er greift die Menschenwürde an. Es ist also ein sensibler Bereich, eine Gratwanderung. Aber man muss sich dem stellen. Und man braucht für entsprechende Klauseln eine rechtssichere Grundlage. Das ist sehr schwierig, wie das aktuelle Gutachten eines Verfassungsrechtlers zeigt, das die Kulturstaatsministerin in Auftrag gegeben hatte.
Das stelle ich mir sowohl politisch als auch in der konkreten bürokratischen Umsetzung sehr schwierig vor
Der Anfangsprozess wird wichtig sein, bei dem es beispielsweise um die Besetzung von Jurys und Gremien aus einem breiten Spektrum geht. Man muss da jetzt nicht in die Exegese über 15 Jahre alte Äußerungen auf Social Media gehen - das wird mit Sicherheit der Sachlage nicht gerecht. Entscheidend ist aber schon zu schauen: Was soll gefördert werden? Und wer sind die Akteure? Wird damit die BDS- Kampagne betrieben? Oder sieht jemand die israelische Politik kritisch, ohne antisemitisch zu sein? Dieser Prozess wird hoffentlich zu einer größeren Achtsamkeit führen.
Sehen Sie die Gefahr, dass man sich da im Kulturbereich international ins Abseits manövriert?
Dadurch, dass wir diese besondere Geschichte haben, stehen wir etwas außerhalb dessen, was andere Länder für eine Verantwortung haben. Schlimmer geht es nicht, und da sind wir, die Deutschen, einfach in einer besonderen Situation.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Juristin und Politikerin (FDP). Von 1992 bis 1996 und von 2009 bis 2013 war sie Bundesjustizministerin. 2018 wurde sie zur ersten Antisemitismusbeauftragten des Landes NRW .
Die Kulturministerinnen und -minister von Bund und Ländern sowie kommunale Spitzenverbände haben sich im März auf „Strategien gegen antisemitische, rassistische und andere menschenverachtende Inhalte im öffentlich geförderten Kulturbetrieb“ geeinigt. Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) sagte, es gehe um präzisere Förderbedingungen, Sensibilisierungen durch Fortbildungen und „Code of Conducts“ genannte Verhaltensgrundsätze, „die in Eigenverantwortung von den geförderten Einrichtungen und Projekten erarbeitet werden sollen“.