LiteraturDas Mädchen von der Müllhalde
Köln – Wie aus dem Boden ist der fremde Mann mit der grünen Trainingsjacke plötzlich neben Isa aufgetaucht. Andere hätten sich erschreckt, zumal auf dem Friedhof. Aber Isa hat schon zu viel gesehen, um sich von etwaigen Geistern beeindrucken zu lassen. Fragt stattdessen, was die Steine zu bedeuten haben, die jemand auf den Grabstein vor ihr gelegt hat. „Das ist eine jüdische Sitte“, antwortet der Mann, aber die Leute machten das jetzt überall so. „Alles Idioten. Und wir müssen’s ausbaden.“
Mit dem Friedhofsbesucher hat sich Wolfgang Herrndorf eine kleine Gastrolle in seinem letzten Roman gestattet, als untoter Querulant. Nun erscheint „Bilder deiner großen Liebe“ als Vermächtnis des Autors, der sich am 26. August 2013 kurz vor Mitternacht am Ufer des Hohenzollernkanals in Berlin erschossen hat. Nicht, weil er nicht mehr leben wollte, sondern weil ein bösartiger Hirntumor ihm das Weiterleben und -schreiben unmöglich machte. Der Roman ist deshalb ein unvollendeter geblieben. Nicht das Buch, das Herrndorf veröffentlichen wollte, aber auch keines, das er nicht veröffentlichen wollte. Man muss nicht lange darin lesen, um zu verstehen, warum.
Wolfgang Herrndorf (1965 – 2013) ereilte der Erfolg erst, als er schon todkrank war. Sein millionenfach verkauftes Jugendbuch „Tschick“ ist das meistgespielte Stück auf deutschen Bühnen.
„Bilder deiner großen Liebe“, Rowohlt, 144 S., 16,95 Euro.
Der Text beginnt wie Herrndorfs Blog „Arbeit und Struktur“: in einer psychiatrischen Anstalt. Doch während der Autor in seinem öffentlichen Tagebuch in eine solche eingeliefert wird, ein Pinguinkostüm tragend, bricht Isa aus: „So schnell kann keiner gucken.“ Wir kennen Isa aus Herrndorfs Millionenerfolg „Tschick“, der Mark-Twain-ähnlichen Irrfahrt zweier 14-jähriger Jungs durch Deutschlands wilden Osten. Sie treffen Isa auf einer Müllhalde und wundern sich über dieses Mädchen, das noch viel unbehauster ist als sie selbst. „Bilder deiner großen Liebe“ ist der „Huckleberry Finn“ zu Tschicks „Tom Sawyer“, voller Gedanken und Beobachtungen, die zu gefährlich sind für die Schullektüre. Gut so.
Isa treibt sich auf Friedhöfen rum, sieht den Geist ihres Vaters, fährt ein Stück mit einem Binnenschiffer, der ihr von seiner Vergangenheit als Bankräuber erzählt. Vielleicht ist die Geschichte der vergrabenen Beute, die in der Erde bleiben muss, während er ein ganz gewöhnliches Leben lebt, ja auch ein Sinnbild. Ach, natürlich ist sie das. Isa entdeckt einen von Hirn- oder Herzschlag über seine Beute hingestreckten Jäger, redet – und spätestens hier beginnt dann auch der unbedarfteste Leser ihrem Bericht zu misstrauen – mit einem gehörlosen Jungen, und trifft natürlich Maik Klingenberg und seinen seltsamen Freund Tschick.
Zuvor hat sie schon den verdurstenden Schweinen eines Viehtransports zu trinken gegeben, während der Fahrer des Lastwagens dabei auf ihren Hintern guckt und onaniert. Mitleid wird nicht belohnt. Später wird der Laster sowieso auf der Autobahn umkippen, zuungunsten der Schweine, wie man in „Tschick“ nachlesen kann. Der Roman ist oft nicht weniger lustig als „Tschick“. Aber es enthält keine tröstlichen Botschaften.
Man soll den Autor vom Werk trennen, sagen die Germanisten. Herrndorf verfügte testamentarisch, diese keinesfalls an seinen Nachlass ranzulassen. Journalisten, denen diese Trennung seit jeher egal ist, empfahl er allerdings mit der Waffe in der Hand zu vertreiben. Weshalb wir Herrndorfs Grab nicht mit Steinen beschweren wollen, aber dennoch rundheraus behaupten, dass diese verrückte, scharfsinnige, gefährdete Isa durchaus ihrem Autor ähnelt.
Der hätte gerne, weil er sich mehr fürs Werk als für sich selbst interessierte, jemand anderen den Roman zu Ende schreiben lassen. Was zum Glück niemand wollte. Nun stehen Isas zunehmend unverbundene Erlebnisse und Beobachtungen – vielleicht ist sie eher eine Nachfahrin von Büchners Lenz als von Twains Finn – im scharfen Gegensatz zur Klarheit und Aufgeräumtheit von Herrndorfs Prosa.
Am Ende schießt Isa aus der Heckler & Koch, die sie dem toten Jäger abgenommen hat, senkrecht in den Himmel. Die Kugel fällt aus dem endlosen Blau „millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe“. Dieses glückliche Ende der Parabel gibt es freilich nur in der Kunst.