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LiteraturFrauen dürfen nur 100 Wörter sprechen

Lesezeit 4 Minuten

Demonstrantinnen gehen in Helsinki vor einem Besuch von US-Präsident Donald Trump für Frauenrechte auf die Straße.

  1. Christina Dalchers Debütroman „Vox“ ist eine Mischung aus feministischer Dystopie und Thriller

Eines Tages kommt Jean McClellans sechs Jahre alte Tochter Sonia besonders fröhlich aus der Schule. „Preis gewonnen“ sagt sie. Und etwas später „Niedrigste“ Für ihre Mutter ist diese Nachricht, sind diese drei Wörter ein Albtraum. In Christina Dalchers dystopischem Roman „Vox“, der diesen Mittwoch erscheint, dürfen Frauen und Mädchen nur 100 Wörter am Tag sagen und Sonia freut sich darüber, dass sie in der Schule am wenigsten gesprochen hat und dafür ausgezeichnet wurde.

Ein Zählgerät am Handgelenk jeder Amerikanerin – egal ob Baby oder Greisin – registriert jedes Wort. Sprechen die Frauen mehr, werden sie mit Stromschlägen gequält, die immer stärker werden. Und Jean muss erkennen, dass ihre Tochter beginnt, sich dem System anzupassen. „Mit sechs müsste Sonia über eine Armee von zehntausend Lexem verfügen, individuelle Soldaten, die sich versammeln, strammstehen und den Befehlen ihres kleinen, noch formbaren Gehirns gehorchen.“ Stattdessen droht ihr der Verlust der Sprache.

Für Jean ist das besonders schmerzhaft, denn bevor sie von der religiösen Bewegung der Reinen, die den Präsidenten kontrolliert, ins Haus und an den Herd gezwungen wurde, arbeitete sie als Sprachwissenschaftlerin.

Auch Christina Dalcher ist Linguistin, so verwundert es nicht, dass sie Sprache und die Frage, wie sehr sie uns ausmacht, in den Mittelpunkt ihres Romans gestellt hat. Dalcher schrieb die Geschichte sechs Monate, nachdem sie nach sieben Jahren im Ausland wieder in die USA zurückgekehrt war. Nach nur zwei Monaten war ihr Debüt fertig. Die Idee zu „Vox“ war ihr gekommen, als sie an einem Flash-Fiction-Wettbewerb zu einem Endzeitthema teilnahm. Flash Fiction bezeichnet Geschichten, die auf eine genaue Anzahl Wörter, in diesem Fall waren es 700, beschränkt ist. Sie schrieb über eine Welt, in der ein biologischer Kampfstoff zu einer bestimmten Art von Sprachverlust führt. Dann kam ihr die Idee, diesen Verlust nur auf die Hälfte der Bevölkerung zu beschränken.

Dalchers Roman entwickelt gerade zu Beginn einen beachtlichen Sog. Etwa 16 000 Wörter spricht jeder Mensch am Tag. Doch in ihrer Welt wird den Frauen diese Form des Ausdrucks genommen. Auch Zeichensprache ist verboten, jede Form des Geschriebenen. Bücher werden weggeschlossen, überall hängen Kameras und überwachen die Einhaltung der Regeln. Die Männer hingegen dürfen ganz normal weitersprechen, weiterlesen, weiterdiskutieren. So auch Jeans Mann und ihre drei Söhne. „Vox“ ist ein Roman, der in vielerlei Hinsicht an Margaret Atwoods „The Handmaid’s Tale“ erinnert, der durch die Serienadaption mit Elisabeth Moss für viel Aufregung besonders in den USA sorgte. Auch dort werden Frauen aller Rechte beraubt und darauf reduziert, Kinder zu gebären. Dalcher kennt die Vergleiche. Doch mehr als der Inhalt habe sie deren Stil inspiriert. Ihrem Debüt werden sie so oder so viel Aufmerksamkeit verschaffen. Schon bei Atwoods Roman, der Mitte der 80er Jahre entstand, sehen viele erschreckende Parallelen zu der Regierung Donald Trumps. Bei Dalcher liegt natürlich der Gedanke nahe, dass sie ihre Geschichte als eine direkte Reaktion auf das politische Geschehen in ihrer Heimat schrieb. Doch sie betonte in einem Interview, dass es ihr darum gegangen sei, sich ganz generell mit der Trennung der Geschlechterrollen auseinanderzusetzen. Die Trump-Regierung habe da dann einfach das perfekte Timing geliefert.

Neben der Bedeutung der Sprache für den Zusammenhalt einer Gesellschaft gibt es ein weiteres Thema, das ihr sehr am Herzen liegt – Mutterschaft. Frage man eine Frau, ob sie Kinder habe, dann werde immer erwartet, dass man „Ja, und sie sind wunderbar“ antworte. Niemand erwidere auf eine solche Frage „Ich habe keine Kinder. Ich hatte Fehlgeburten.“ Niemand spreche über Abtreibungen oder Unfruchtbarkeit. Das sei eine andere Form des Schweigens, die es nicht auszublenden gelte.

Leider verlässt sich Dalcher nicht auf ihre starke Grundidee. In der zweiten Hälfte entwickelt sich „Vox“ mehr und mehr zu einer Mischung aus Thriller und Liebesgeschichte, und verliert so viel von der Wucht, die das Buch anfangs entfaltet. Auch das liebliche Happy End, das sie ihrer Hauptfigur gewährt, will nicht recht zum Beginn des Romans passen.

Man kann Dalcher den Vorwurf machen, dass ihr Roman nicht besonders subtil geraten ist. Vermutlich ist ihr das egal, sie will ihre Botschaft laut in die Welt rufen: Wir dürfen die Rechte und Freiheiten, die wir haben, nicht als selbstverständlich erachten, müssen bereit sein, für sie zu kämpfen: „Meinungsfreiheit ist mehr, als nur seinen Standpunkt rüberzubringen. Es geht darum, die richtigen Dinge zu sagen. Meinungsfreiheit geht mit Verantwortung einher.“

Die Autorin

Die Linguistin Christina Dalcher (50), die einen amerikanischen und einen britischen Pass hat, pendelt zwischen den Südstaaten der USA und Neapel. Dalcher, zu deren Helden Stephen King, Roald Dahl und Carl Sagan zählen, promovierte an der Georgetown University in Theoretischer Linguistik und forschte über Sprache und Sprachverlust. Ihre Kurzgeschichten und Flash Fiction erschienen weltweit in Magazinen und Zeitschriften. Ihr Debütroman „Vox“ erscheint an diesem Mittwoch.

Christina Dalcher: „Vox“, deutsch von Marion Balkenhol und Susanne Aeckerle, S. Fischer, 400 Seiten, 20 Euro.