Der Kölner Medienwissenschaftler Martin Andree kritisiert in seinem Buch „Big Tech muss weg“ die Dominanz amerikanischer Digitalkonzerne und sieht darin eine Gefahr für die Demokratie. Ein Gespräch.
Kölner Medienwissenschaftler„Wir sehen eine gefährliche Fata Morgana an Vielfalt im Internet“
Herr Andree, Sie haben mit Ihrem Forschungsprojekt an der Uni Köln herausfinden wollen, wie viel Zeit die Deutschen im Internet verbringen – und wo genau. Warum haben das andere vor Ihnen nicht schon längst gemacht?
Weil es schwer ist. Wir haben allein in Deutschland 16 Millionen Domains, also unterschiedliche Webseiten und Apps. Und dann sind die Menschen auf Smartphones, Tablets und Desktops unterwegs. Sie müssen also alle diese Geräte in den Messungen irgendwie zusammenführen. Das ist eine Mount-Everest-Besteigung.
Wer war an dem Versuch beteiligt?
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Wir haben 16.000 Menschen, die genau die demografische Struktur der Bundesrepublik abdecken, über drei Monate in ihrem Verhalten beobachtet. Mit ihrer Einwilligung natürlich. Diese repräsentative Gruppe kann man hochrechnen auf die Gesamtbevölkerung.
Was hat Ihre Studie ergeben?
Ein überragender Teil der Internetnutzung ist auf sehr wenige Player beschränkt: Facebook, Instagram, Youtube, Google. Der Rest ist ein riesengroßer Friedhof. Diese extreme Ausprägung hätte ich nie für möglich gehalten. Ich dachte zuerst, ich hätte mich verrechnet.
Mit den Anfangszeiten des Internets ging ein großes Demokratisierungs-Versprechen einher: Jeder kann seine Stimme hörbar machen, kann einen Blog schreiben. Ihre Studien zeigen: Das entspricht nicht der Realität.
Völlig richtig. Wir sehen eine gefährliche Fata Morgana an Vielfalt mit Millionen von Blogs und unabhängigen Angeboten. Aber wenn wir uns anschauen, was wirklich genutzt wird, sind es die Monopole US-amerikanischer Digitalkonzerne. Das hat einen massiven Effekt auf das, was wir eigentlich seit Jahrzehnten schützen wollen: die Anbietervielfalt der Medien, die im Kern beschädigt wird.
Warum besuchen die meisten Menschen fast ausschließlich die großen Plattformen?
Im Wesentlichen können wir sagen, dass fairer und freier Wettbewerb abgeschafft wurde. Wenn Sie als Medienhaus mit Ihren Inhalten ins Netz gehen, gehen Sie davon aus, eine faire Chance zu haben, in einem Markt mithalten zu können. Diese Chance haben Sie aber nicht. Es ist gut erforscht, dass Netzwerkeffekte dazu führen, dass die Plattformen, die sich am Anfang sehr stark durchsetzen, quasi alles bekommen und alle anderen nichts. Sie sehen am Beispiel von Elon Musk und der von ihm gekauften Plattform X (früher Twitter): Der kann machen, was er will und zeigt gerade, wie gefährlich es ist, wenn große Anteile digitaler Medien in den Händen von ganz wenigen Personen liegen. Die meisten Leute bleiben trotzdem bei X, weil ihre Freunde da sind und sie die Plattform deshalb nicht verlassen wollen.
Ähnlich wie bei Facebook oder Instagram.
Genau. Problematisch ist auch die Tatsache, dass die Plattformen absichtlich geschlossene Standards einsetzen. E-Mails können Sie dagegen problemlos von einem E-Mail-Anbieter zum anderen schicken. Die Plattformen wollen den Traffic auf ihren eigenen Plattformen halten und alle, die versuchen, außerhalb der Plattformen Content anzubieten, haben zunehmend weniger Chancen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Während Sie früher überall Links setzen konnten und Menschen, die sich für ein Thema interessiert haben, auf eine andere Website geführt worden sind, geht das heute oft gar nicht mehr. Diese Methoden zeigen wie die Digitalkonzerne ihre Monopolstellung missbrauchen. Der Wettbewerb ist abgeschafft, die Anbietervielfalt ist stark gefährdet. Das beweisen unsere Messungen und Daten bis ins letzte Detail.
Sie behaupten: Internet und Öffentlichkeit werden in den kommenden Jahren von einer Handvoll der größten Tech-Unternehmen derart allumfassend übernommen, dass wir kaum noch etwas dagegen tun können. Klingt das nicht ein bisschen sehr stark nach Endzeitszenario?
Die Fakten dazu liegen auf dem Tisch. Die Belastbarkeit der erhobenen Daten ist hundertmal genauer als zum Beispiel Daten, die den Klimawandel vorhersagen. Die Grundlage der Zahlen, die ich nutze, um das Abschmelzen der analogen und redaktionellen Medien vorauszuberechnen, sind öffentlich publizierte Zahlen, die allen zugänglich sind. Wir sollten nicht mehr viel Zeit darauf verwenden, uns zu fragen, ob unsere Demokratie in sechs oder acht Jahren gefährdet ist, sondern jetzt darüber reden, wie wir die Situation ändern. Wenn wir Big Tech nicht stoppen, werden unsere Kinder nicht mehr in einer Demokratie leben.
Ihre These: Der Algorithmus wird kritische Beiträge zu Big Tech unterdrücken?
Wir wissen ja jetzt schon von Twitter, sogar von Twitter noch vor Elon Musk, dass der Internetverkehr an allen Ecken und Enden manipuliert wurde zu eigenen Interessen. Hätte man den Big-Tech-Gründern vor 20 Jahren in ihren Garagen gesagt, dass sie flächendeckend Menschen überwachen werden, wären sie schockiert gewesen, wie man ihnen so etwas Schlimmes vorwerfen kann. Tatsache ist aber, dass Digitalkonzerne diese Macht sehr bald haben werden. Früher haben wir gedacht: Leute wie Steve Jobs, Bill Gates und Mark Zuckerberg sind irgendwie cool. Es darf aber nicht die Frage sein, ob sie cool sind oder nicht. Die Medien müssen frei, unabhängig und vielfältig bleiben.
Es gibt auch in den sogenannten analogen Medien Verleger-Figuren wie Rupert Murdoch, die viel Macht haben.
Das stimmt, aber das ist nichts gegen derartige Akkumulationen von Macht, die wir jetzt sehen. Es ist absolut inakzeptabel, dass Privatunternehmen oder Personen eine solche Macht über unser Mediensystem ausüben. Der Zustand ist verfassungswidrig und gehört abgeschafft. Monopole auf dem Feld der Medien müssen tabu sein und sind nicht diskutabel.
Wie schätzen Sie die finanzielle Macht der Big-Tech-Unternehmen ein?
Innerhalb der westlichen Welt bündeln die Top 3-Player Alphabet (Google), Meta (Facebook, WhatsApp und Instagram) und Amazon 85 Prozent der gesamten Werbeeinnahmen. Alle anderen Unternehmen und Medien müssen sich mit den restlichen 15 Prozent zufriedengeben. Unter den Bedingungen werden viele Redaktionen nicht überleben können. Schon deshalb müssen wir etwas gegen diese Dominanz tun. Medien sind wichtig für die Demokratie.
Sie nennen in Ihrem Buch 15 Punkte, die die Macht der Big-Tech-Konzerne bremsen würden. Welche sind das?
Mein Hauptkritikpunkt: Das Netz ist zwar reguliert, aber es ist falsch reguliert, weil nichts gegen die Konzentrations-Effekte unternommen wird. Wir müssten nur ein paar Schalter umlegen und hätten sofort wieder Wettbewerb. Ein Beispiel: Warum sagen wir den Plattformen nicht, dass Sie kein Recht dazu haben, Links, die nach draußen auf andere Websites führen, zu begrenzen? Das muss überall erlaubt sein – auch ohne, dass solche Posts benachteiligt werden, indem die Beiträge weniger sichtbar sind.
Haben die Kartellbehörden versagt?
Das Thema frustriert mich total. Die Kartellbehörden werden von unserer demokratischen Gesellschaft dafür bezahlt, dass sie die Menschen vor solchen gefährlichen Effekten beschützen. Die Kartellbehörden besäßen die nötige Macht und Autorität, um genau das umzusetzen. Sie lassen sich seit vielen Jahren von Big Tech hinters Licht führen. Seit vielen Jahren werden Hunderte von Unternehmen aufgekauft, Wettbewerber, die zerstört oder integriert werden. Hätte das jemand verhindert, hätten wir heute eine wunderbar pluralistische und vielfältige Internetlandschaft.
Was könnte Deutschland denn allein tun – ohne internationale Abstimmung?
Wir können selbst darüber entscheiden, wie wir in diesem Land leben wollen und unser Mediensystem gestalten wollen. Wir können auch frei über die Regeln bestimmen, nachdem die Unternehmen in Deutschland tätig sein sollten. Stellen Sie sich vor, wir würden den Digitalkonzernen sagen: Das sind die Regeln in Deutschland. Bitte befolgt die, sonst dürft ihr auf diesem oder jedem Feld nicht mehr wirtschaftlich in Deutschland tätig sein. Eine Argumentation könnte sein: Wenn ihr euch als Intermediäre bezeichnet und deshalb nicht für Inhalte verantwortlich gemacht werden könnt, dann dürfte ihr auch keine Inhalte monetarisieren. Wie kann es denn sein, dass die Digitalkonzerne genauso mit Inhalten Geld verdienen, wie das Redaktionen tun, aber sie müssen keine Verantwortung für die Inhalte übernehmen?
Versteht die Politik das Problem?
Das Hauptproblem für die Politik ist, dass es keine wirklich existierende Debatte über diese Monopole und Vormachtstellung gibt. Die Politik braucht das aber, weil sie ja Stimmen bekommen will von den Wählerinnen und Wählern. Beim Klimawandel gab es sehr viel Präsenz in den Medien, was dazu geführt hat, dass sich eine öffentliche Meinung zum Thema gebildet hat. Diese Debatte haben wir in Bezug auf Big Tech aber noch nicht.
Zu Person und Buch
Martin Andree ist Medienwissenschaftler, er forscht an der Universität Köln und unterrichtet im Schwerpunkt Digitale Medien. Sein „Buch Big Tech muss weg. Die Digitalkonzerne zerstören Demokratie und Wirtschaft – wir werden sie stoppen“ ist im August im Campus-Verlag erschienen.