Medienethiker über Nena-Eklat„Ihr Verhalten ist schon sehr irritierend“
Herr Professor Schicha, Nena sorgt gerade für Schlagzeilen, weil sie auf einem Konzert das Publikum aufforderte, die Corona-Regeln zu ignorieren. Welche Folgen hat das, wenn eine prominente Musikerin sich so positioniert?Christian Schicha: Zunächst ist es das Recht jedes Künstlers und jeder Künstlerin, politische Stellungnahmen abzugeben und sich darüber Gedanken zu machen, wie ein Konzert aussehen sollte, bei dem sie die Hauptperson sind. Ich halte es für falsch dafür zu plädieren, dass Kunstschaffende nur die Aufgabe haben, die Leute zu unterhalten und auf weitere Anmerkungen über relevante Themen verzichten sollten. Natürlich dürfen sich Kunstschaffende äußern, gerade auch zu politischen Entscheidungen in der Corona-Krise, in der die Kunst extrem gelitten hat. Das war für die Betroffenen dramatisch, weil faktisch ein Auftrittsverbot herrschte.
Aber ist es nicht problematisch, wenn sie sagt, jeder könne frei entscheiden, ob er sich an die Hygiene-Auflagen hält? Sie ist prominent, ihre Fans sehen sie als Vorbild.
Ja, die Verantwortung der Prominenten ist groß. Durch die zahlreichen Kanäle, die sie nutzen können – Facebook, Twitter, Youtube – erhalten sie große Aufmerksamkeit. Sie sind ein Vorbild. Ihre Fans folgen ihnen nicht nur künstlerisch, sondern nehmen auch die Statements zur Kenntnis, die unabhängig von der eigentlichen Darbietung erfolgen. Deshalb sollten sich Künstlerinnen und Künstler sehr gut überlegen, was sie sagen, wie sie es sagen und welche Konsequenzen das womöglich hat. Sie müssen verstehen, dass das, was sie sagen, eine höhe öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt. Man muss an sie als Vorbilder appellieren, die Gesamtsituation im Blick zu haben und nicht nur die eigene Befindlichkeit ins Zentrum zu rücken.
Und dieser Verantwortung wird Nena nicht gerecht?
Bei Nena ist es so, dass sie durch eine Nähe zu Xavier Naidoo, der ja mit zu dem Verschwörungskreis um Attila Hildmann gehört, und ihren Dank an Teilnehmer einer so genannten Querdenker-Demonstration in Kassel schon vorher heftige Kritik auf sich gezogen hat. Und das aktuelle Verhalten von ihr ist schon sehr irritierend. Es ist nun mal so, dass man umsichtig mit der Corona-Pandemie umgehen und Regeln beachten muss.
Auch Helge Schneider hat ein Konzert abgebrochen, weil ihn herumlaufendes Gastro-Personal störte. Auch das sorgte für viel Aufmerksamkeit. Wie beurteilen Sie seinen Schritt?
Helge Schneider hat ja schon vor Monaten geäußert, dass er keine Lust hat, im Autokino vor hupenden Autos aufzutreten. Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Als ein Künstler, der viel mit Witz und Komik arbeitet, ist er intensiv auf die Reaktionen seines Publikums angewiesen. Das Problem ist, dass die Projektionsflächen, die sich in der hitzigen Corona-Debatte gebildet haben, dann genau auf solche Ereignisse kapriziert werden. Man sollte bei dem bleiben, was Künstler und Politiker gesagt haben. Das kann man beschreiben, kritisieren und einordnen. Aber bei Helge Schneider geht es ja weniger darum, was er gesagt und getan hat, sondern was sich daraus in Anschlussdiskursen entwickelt hat.
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Im Netz ging es eigentlich nur noch darum, ob er Corona-Leugner ist oder nicht.
Das ist genau das Schubladendenken, das problematisch ist. Das wird durch die Erhitzungskultur, in der wir leben, befeuert. Es ist nicht mehr relevant, was stattgefunden hat. Das ist wie bei den Virologen: Sind Sie Team Drosten, Team Kekule oder Team Brinkmann? Man ist für den einen und gegen einen anderen. Differenzierungen finden nicht statt. Und dann unterstellt man Helge Schneider eben, dass er Corona-Leugner ist. Ich habe von ihm noch nie Aussagen gehört, in denen er behauptet hat, Schutz oder Impfungen wären nicht erforderlich.
Wieso verselbstständigt sich die Debatte so schnell?
Das Problem besteht darin, dass Leute, die einfach genervt sind oder eine negative Meinung über bestimmte Künstler, Wissenschaftler oder Politiker haben, das einfach über das Internet artikulieren und das dann vielfach geteilt und gelikt wird. Das sind in der Regel nur wenige Stimmen, die aber sehr laut, polemisch und bösartig sind. Und genau die, die den Prominenten als Geisel für ihre eigene Argumentation nehmen, erzielen damit Aufmerksamkeit und Klicks. Das ist ein strukturelles Problem, weil unsere Debatten vor allem über diese virtuellen Kanäle wahrgenommen werden.
Wie sollten Medien damit umgehen? Wenn sie berichten, verbreiten sie solche Aussagen ja auch immer weiter.
Ja, das ist das klassische Dilemma. Es ist wie bei den sogenannten Fake News. Artikel, die Desinformationen richtigstellen, müssen die Fake News zunächst erneut dokumentieren. Und dann können die frohlocken, die sie verbreitet haben. Das ist die klassische AfD-Strategie: Erstmal wird provoziert und dann zurückgerudert. Aber die Debatte ist dann da und die Aufmerksamkeit bleibt vorhanden.
Also sollten Medien gar nicht über solche Vorgänge berichten?
Medien müssen darüber berichten. Eine Künstlerin wie Nena ist eine populäre öffentliche Person und verfügt über eine hohe Bekanntheit. Natürlich sollten Medien vor allem über politisch relevante gesellschaftliche Ereignisse berichten, aber wir alle beschäftigen uns eben neben der Politik, Kunst und Kultur auch mit Klatsch und Tratsch. Und wenn Medien, die ja umfassend informieren sollen, nicht berichten, setzen sich natürlich dem Vorwurf aus, etwas zu verschweigen. Es ist wichtig, auch Äußerungen von Kunstschaffenden einzuordnen, zu kommentieren und gegebenenfalls zu widersprechen. Diese zu ignorieren ist komplett falsch. Man sollte Leute ignorieren, die andere destruktiv beschimpfen, die polemisch, frauenfeindlich oder rassistisch sind. Da macht Kommunikation keinen Sinn. Diesen Menschen sollte man keine Bühne bieten.