Politikwissenschaftler Michael Dreyer sieht außer Schatten auch viel Licht im Jahr 1923. Die Weimarer Republik war stärker, als ihre Gegner vermutet hatten.
1923„Katastrophenjahr mit gutem Ende“

Geldscheine mit einem Wert von einer und zwei Millionen Mark – vornehmlich 1923 von der Deutschen Reichsbank ausgegeben.
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Herr Professor Dreyer, die junge Weimarer Republik wankte 1923 – aber sie fiel nicht. Hat dieses Jahr die republikanischen Gedanken unter den Deutschen gestärkt oder geschwächt?
Dreyer: Es zeigte sich 1924, dass die Republik gestärkt worden war – denn es wurde besser. Kurioserweise hat der Hitler-Putsch im November 1923 dazu geführt, dass die politische Elite ihre Reihen enger schloss. In allererster Linie bewies aber Reichspräsident Friedrich Ebert in all diesen Krisen eine feste Hand und wendete die Vollmachten der Weimarer Verfassung an, um die Republik zu schützen. Im Jahr 1923 erwies sich, dass die Weimarer Republik eine stärkere Demokratie besaß, als ihre Gegner vermutet hatten.
Der Mord an Rathenau zeigte: Niemand konnte sich seines Lebens sicher sein
Im Jahr zuvor war Reichsaußenminister Walther Rathenau ermordet worden. Hatte diese Tat einen Einfluss auf die Krisenhaftigkeit des Jahres 1923?
Dreyer: Dieser Mord war Teil der Gewaltsituation in der Weimarer Republik, in der damals Hunderte ermordet wurden, überwiegend von Rechtsradikalen. Der Rathenau-Mord war herausragend, weil ein Regierungsmitglied umgebracht wurde. Er demonstrierte: Niemand konnte sich seines Lebens sicher sein. Unter diesem Eindruck erfuhr die Demokratie mit dem Republikschutzgesetz und der Einrichtung des Staatsgerichtshofs eine enorme Stärkung. 1923 konnten mit ihrer Hilfe manche Probleme gelöst werden.
Reichskanzler Joseph Wirth sprach 1922 nach der Ermordung Rathenaus davon, dass der Feind zweifellos rechts stünde. Wie verhielt sich die Linke zur Republik?
Dreyer: Die Linke lehnte sie genauso ab wie die extreme Rechte. Die KPD war absolut moskauhörig. Und im Jahr 1923 hielt das Politbüro in Moskau die deutsche Situation reif für eine proletarische Revolution. Die wurde für den Oktober geplant und abgesegnet – kam dann aber mit Ausnahme des Hamburger Aufstands unter Ernst Thälmann nicht zustande. Die KPD war zu diesem Zeitpunkt eine wesentlich größere Partei als die im Grunde bis 1930 vollkommen unbedeutende Nazipartei NSDAP.
Problemjahr 1923
Die Weimarer Republik erlebte 1923 das schwerste Jahr seit ihrer Gründung. Dramatische Schlagzeilen, politische Krisen und Umbrüche prägten die Zeit vor 100 Jahren. Franzosen und Belgier besetzten das Ruhrgebiet, die Reichsmark erfuhr eine gigantische Entwertung, Linke versuchten zu putschen und Adolf Hitler probte im November das erste Mal einen Aufstand gegen die Republik – der Hitlerputsch, den Hitler zusammen mit Erich Ludendorff plante, scheiterte. Hitler wurde zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt – nach neun Monaten wurde er „wegen guter Führung“ vorzeitig aus der Haft entlassen. Ludendorff hingegen wurde freigesprochen. (ksta)
Der Umgang mit Rechten und Linken ist bis heute ein Dauerthema unter Demokraten. Haben wir da ausreichend aus der Geschichte der Weimarer Republik gelernt?
Dreyer: Ich denke, unsere Demokratie ist wehrhaft. Doch es ist eben nicht aus den vermeintlichen Fehlern der Weimarer Republik, wie lange behauptet wurde, gelernt worden. Tatsächlich finden wir heute Elemente der wehrhaften Demokratie, die alle schon in Weimar vorhanden waren und in der Bundesrepublik übernommen worden sind. Eindeutig verbessert hat sich die Zusammensetzung der juristischen Elite. Richter drückten 1923 bei Rechtsradikalen gern ein Auge zu und ließen sie mit milden Strafen davonkommen, während gegen Linke die ganze Härte des Gesetzes angewendet wurde.
Die massive Geldentwertung 1923 hinterließ ein wirtschaftliches Trauma in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung. Wirkt es in der Inflationsangst der Deutschen von heute fort?
Dreyer: Man kann 1923 nicht isoliert betrachten, denn wenige Jahre später rollt die Welle der Weltwirtschaftskrise und 1945 bis 1948 gab es nochmals eine galoppierende Inflation als Resultat des nicht allein militärisch, sondern auch moralisch verlorenen Zweiten Weltkriegs. Innerhalb von gut 20 Jahren zweimal eine komplette Geldentwertung – das gräbt sich schon tief in eine Bevölkerung ein. Dabei waren Reiche und Proletarier von der Inflation weniger betroffen. Die einen hatten ihr Geld in Immobilien und in Fabriken, die anderen waren nie in der Lage gewesen, Ersparnisse anzulegen. Es traf immer die bürgerliche Mittelschicht – die allerdings einen Kernbestandteil des Staates und seines Apparates ausmacht. Dies führt zu Vertrauensverlusten.
Ich denke, unsere Demokratie ist wehrhaft. Doch es ist eben nicht aus den vermeintlichen Fehlern der Weimarer Republik gelernt worden. Verbessert hat sich die Zusammensetzung der juristischen Elite
Heute fürchten sich die Menschen nach den Pandemiejahren vor dem Krieg, den Russlands in der Ukraine angefacht hat, vor der Energiekrise und der allgemeinen Teuerung. Gibt es etwas, was wir im Jahr 2023 aus dem Jahr 1923 lernen können?
Dreyer: Zunächst können wir mit Blick 100 Jahre zurück lernen, wie gut es uns trotz aller Krisen geht. Es existiert heute eine ganz andere Einstellung zur Demokratie, die Vertrauen schafft. Die Krise 1923 ist erheblich größer und dramatischer als alles, was wir im Moment in der Bundesrepublik erleben und bislang erlebt haben. Ich möchte die aktuellen Probleme nicht kleinreden – aber vor 100 Jahren sind Menschen in ihren Zimmern verhungert.
Wenn Sie an 1923 zurückdenken, was war 1923 für Sie?
Dreyer: Ein Katastrophenjahr mit einem guten Ende, weil die Republik durch politisches Krisenmanagement und das Finden von Lösungen stabiler daraus hervorging. Ich hoffe nicht, dass wir jemals in der Bundesrepublik einer solchen Prüfung unterzogen werden.
Das Gespräch führte Thoralf Cleven.

Prof. Dr. Michael Dreyer, Vorsitzender des Weimarer Republik e.V.
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Zur Person
Professor Michael Dreyer, geboren am 3. November 1959 in Timmendorfer Strand, ist Politologe und seit 2005 am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Verfassungsordnung, die politische Theorie und die internationale Wirkung der Weimarer Republik. (ksta)