AboAbonnieren

Soziologe im Interview„Eliten sind Hauptschuldige am Rechtsruck und Fremdenhass“

Lesezeit 6 Minuten

Demonstrant mit der Guy-Fawkes-Maske, Symbol der bankenkritischen Occupy-Wall-Street-Bewegung

Michael Hartmann, 64, ist Professor für Soziologie und lehrte bis 2014 an der TU Darmstadt. Zu seinen Schwerpunkten gehören Eliteforschung und Managementsoziologie.

Herr Hartmann, Donald Trump und Martin Schulz, AfD, Linke und Wutbürger, Brexit-Rentner und die jugendliche Podemos in Spanien und auch der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders – sie alle eint die Kritik an der Elite, am Establishment. Wer, bitte, sind denn Elite und Establishment?

Die beiden Begriffe sind nicht identisch. Bei Eliten handelt es sich um Personen, die durch ihre Position in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich zu beeinflussen, Spitzenleute in Politik, Wirtschaft, Justiz etc.. Establishment bedeutet, dass zwischen diesen Personen eine dauerhafte Verbindung existiert, sie eine relativ feste Gruppe darstellen. Wenn wir einmal in die USA schauen: Trump ist ein Mitglied der Wirtschaftselite, aber da er innerhalb der Wirtschaft ein Außenseiter ist, gehört er nicht zum Establishment. Dort tummeln sich die Bushs, die Clintons, die Rockefellers, die Pritzkers. Trump gehört nicht dazu und kann deshalb gegen das Establishment wettern.

Blicken wir mal auf unsere Zustände: Ein Mann wie Martin Schulz, der lange Jahre in Brüssel agiert hat, wettert plötzlich auch gegen die Eliten. Ist das glaubwürdig?

Nein, es ist nicht glaubwürdig, aber es funktioniert, weil das EU-Establishment in Brüssel von der breiten Bevölkerung zumeist nur in der Person von Juncker wahrgenommen wird. Schulz ist zudem nicht belastet von Vorgängen in der deutschen Politik, kann sich als der Neue präsentieren, als derjenige, der nicht zum Establishment gehört. Ob er dieses Image bis zu den Wahlen aufrechterhalten kann, diesbezüglich habe ich allerdings meine Zweifel.

Ist der SPD-Kanzlerkandidat ein Populist, oder ist der Bürger nur zu dumm, um komplexe Zusammenhänge zu verstehen – wie es der Publizist Herfried Münkler formuliert hat?

Wenn man den Begriff „Establishment“ verwendet, heißt das zunächst nur, dass man eine privilegierte Gruppe am oberen Ende der Gesellschaft kritisiert. Es gibt einen richtigen Kern dieser Kritik, und das gilt für Deutschland, USA, Großbritannien und Frankreich gleichermaßen: In den vergangenen 20, 30 Jahren hat ein relativ kleiner Personenkreis von der wirtschaftlichen Entwicklung sehr stark profitiert, während der Lebensstandard der großen Masse der Bevölkerung stagniert hat oder sogar gesunken ist. In den USA verdient der Durchschnitt heute so viel wie Ende der 1970er Jahre, in Deutschland ein bisschen mehr als Anfang der 1990er, während am oberen Ende die Zuwächse enorm groß waren. Wenn Münkler also sagt, die Leute seien dumm, halte ich dagegen: Ihre eigene materielle Situation nehmen diese Leute schon sehr realistisch war.

Ist das Eliten-Bashing also kein postfaktisches Phänomen?

Nein. Gucken Sie doch mal auf die Dax-Vorstandsgehälter: Die haben sich seit Anfang der 1990er Jahre versiebenfacht. Oder gucken Sie auf Frau Hohmann-Dennhardt bei VW, die 12,5 Millionen für zwölf Monate kassiert, oder die durchschnittlichen Jahresgehälter für NRW-Sparkassenvorstände von über 300.000 Euro. Das ist nicht postfaktisch. Die Lösungsansätze von AfD, Wilders, Le Pen, Trump bieten zwar keine wirklichen Lösungen, der wesentliche Grund für ihren Erfolg ist aber in der Realität zu finden und nicht in Wahnvorstellungen.

Im Moment suchen viele ihr Heil in einem Rechtsruck, in Nationalismus, Abschottung, Fremdenhass. Bündnisse und Freundschaften bröckeln. Ist das die Schuld der Elite – oder der Leute, die sich nicht genug informieren?

Die Hauptschuldigen sind die Eliten, die seit den 1980er Jahren immer eines verkünden: Die Globalisierung ist für alle von Vorteil. Und: Unsere Politik ist alternativlos. Diese Behauptung zieht sich durch die zurückliegenden Jahrzehnte. Wenn Teile der Bevölkerung diesem politischen Mantra jetzt nicht mehr glauben, weil sie die Vorteile für sich nicht erkennen können, dann kommt irgendwann der Punkt, wo man denen auf den Leim geht, die Alternativen anbieten, auch wenn die unsinnig sind. Die Enttäuschung über die Etablierten geht einher mit der leisen Hoffnung, dass die Neuen vielleicht doch etwas besser machen. Dazu kommt dann bei einem Teil auch noch die Neigung, die Schuld bei Schwächeren wie Migranten oder Flüchtlingen zu suchen.

Warum sind eigentlich nicht zu dem Zeitpunkt, als Hunderte von Milliarden an den Börsen und in den Banken verzockt wurden, mehr Leute auf die Barrikaden gegangen? Das war doch viel schlimmer als alle Griechenland-Dramen und sogenannten Flüchtlingsströme.

Der Schock und die Angst saßen so tief, dass man am Ende froh war, dass das irgendwie geregelt wurde. In Deutschland hat man das mit Kurzarbeitergeld und anderen klassischen Mechanismen geschafft. Dabei wurde gar nicht richtig wahrgenommen, wie viel Geld in die Banken-Rettung gesteckt wurde. Was allein die HSH Nordbank den Steuerzahler wirklich kostet, das wird erst jetzt bekannt. Es dürften zwischen 15 und 20 Milliarden Euro sein. Bei den Banken wurde übrigens damals von der Politik postfaktisch argumentiert, als ihre Rettung als unumgänglich bezeichnet wurde. Einige wie die IKB hätte man ohne größere Probleme pleitegehen lassen können. Und die Verantwortlichen im Bankensektor wurden nie wirklich zur Verantwortung gezogen, im Gegenteil: Größtenteils wurden sogar die Boni munter weiter gezahlt. Auch da verstärkt sich der Eindruck: Die da oben können machen, was sie wollen.

Bringen diese Zustände, wie Sie sie beschrieben haben, die Demokratie in Gefahr?

Die Gefahr besteht, wenn sich nichts ändert. Sie kommt daher nicht nur von Seiten des Rechtspopulismus, sondern gerade auch durch das Verhalten der etablierten Eliten. Das betrifft die Vergangenheit, aber auch die Gegenwart. Wenn man sich Premier Mark Rutte in den Niederlanden, der sich jetzt in den Wahlen gegen den Rechtspopulisten Geert Wilders durchgesetzt hat, oder den französischen Präsidentschaftskandidaten der Konservativen, Francois Fillon ansieht – da ist ja inzwischen vieles ähnlich wie bei Wilders oder Le Pen. Rutte macht Migranten fast genauso zu Sündenböcken wie Wilders, und Fillon polemisiert gegen die Justiz genauso wie Le Pen. Besonders schlimm ist, wenn Politiker über einen langen Zeitraum Veränderungen in der Bevölkerung nicht ernstnehmen wie etwa die dramatisch zurückgehende Wahlbeteiligung. Darüber wurde nie ernsthaft debattiert, weil es die Machtverhältnisse nicht gefährdet hat.

Haben die Zügellosigkeit, Gier und Sorglosigkeit der Eliten am Ende auch die Zügellosigkeit, den Verlust von „Anstand und Sitte“ bei vielen Bürgern zur Folge?

Kann man so sehen. Wie heißt der alte Spruch? Der Fisch stinkt vom Kopf her. Wenn vom politischen Spitzenpersonal Ausfälle etwa gegen Flüchtlinge salonfähig gemacht werden, dann befeuert das natürlich so einen Prozess. Haltungen, die bislang eher im Verborgenen gepflegt wurden, kommen ans Tageslicht. Fremdenfeindliche Sprüche werden toleriert, die Leute werden teilweise sogar handgreiflich.

Was sollten die Eliten dazu beitragen, dass die Gesellschaften wieder mit sich und anderen ins Reine kommen?

Die Eliten müssten eine ehrliche Bestandsaufnahme machen und eigene Fehler einräumen. Das betrifft vor allem die Steuer- und Sozialpolitik, die besonders stark zur sozialen Ungleichheit beigetragen hat. Und Verantwortliche müssten konsequenter zur Rechenschaft gezogen werden, wie zum Beispiel bei der HSH Nordbank. So lange der Eindruck bleibt, die da oben können letztlich machen, was sie wollen, wird sich nichts ändern.

Das Gespräch führte Thomas Geisen