Der Publizist Michel Friedman diskutierte mit Schülerinnen und Schülern des Lessing-Gymnasiums in Porz-Zündorf über Antisemitismus.
Michel Friedman warnt in Köln:„Hass ist hungrig, er wird nie satt“
Von Antisemitismus will er eigentlich gar nicht mehr reden, erklärt Michel Friedman den Zehntklässlerinnen und -klässlern des Lessing-Gymnasiums in Köln-Zündorf, die aber doch genau darüber mit ihm sprechen wollen. Das Wort klinge zu sehr nach Latein – „Haben Sie Latein?“, nach Fremdwort, Abstraktion und damit nach etwas, was man sich persönlich leicht vom Hals halten kann.
Ihm selbst ist das nie gelungen – kein Wunder, schließlich war Friedman, der als Zehnjähriger n mit seinen Eltern aus Paris kam, aus der Familiengeschichte und dem eigenen Erleben unablässig mit Antisemitismus konfrontiert. Als „Drecksjude“ sei er auf dem Schulhof beschimpft worden, erzählt der Publizist, Moderator, Hochschullehrer und Ex-Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland den Kölner Schülerinnen und Schülern, die heute etwa im gleichen Alter sind wie er damals. Wie er reagiert, was er unternommen habe? Sich wehren, zuschlagen? Keine gute Idee: „Dafür war ich viel zu schmächtig.“ Stattdessen habe er die Umstehenden gefragt: „Findet ihr das gut? Ist das richtig, dass ich so beschimpft werden darf?“ – „Nein“, habe eine Schülerin gesagt und sei einen Schritt nach vorn getreten („die Mädchen sind immer mutiger“). Andere hätten sich angeschlossen. Das sei der Punkt gewesen, an dem er gewusst habe: Ich habe gewonnen.
Es sind vor allem diese Geschichten, bei denen es mucksmäuschenstill im Raum ist, wie auch die Kölner CDU-Bundestagsabgeordnete Serap Güler feststellt, die Friedman zusammen mit Abraham Lehrer von der Kölner Synagogengemeinde und mit Florian Braun (CDU), Lessing-Abiturient 2008 und heute Vorsitzender im Schulausschuss des NRW-Landtags, ans Lessing-Gymnasium gelotst hat.
Seit dem Angriff der Hamas ist in Deutschland etwas "völlig entglitten"
Und natürlich will Friedman doch über den Antisemitismus reden, bei dem in Deutschland nach seiner Beobachtung seit dem 7. Oktober 2023 etwas „völlig entglitten“ ist: „Tod-den-Juden“-Parolen, an Wohnhäuser von Juden geschmierte David-Sterne und auch triumphierende „From the river to the sea“-Gesänge, hinter denen nichts anderes stecke als Vernichtungsfantasien gegenüber dem Staat Israel und seinen Bewohnern.
Und die Reaktion der Gesellschaft in Deutschland? Über Wochen hinweg sehr verhalten, sehr zögerlich, in den Zahlen sehr überschaubar. Da habe er beschlossen, „den Gleichgültigen in diesem Land zu schreiben: Wo wart Ihr?“ – als Frage nach der Menschlichkeit. Aus diesem und anderen Briefen ist Friedmans neues Buch geworden. „Judenhass“ heißt die Sammlung, über die der Autor an diesem Dienstag abends zur Eröffnung der 24. lit.Cologne mit Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) diskutieren will.
Menschenhass – das ist auch just einer der beiden Begriffe, die Friedman anstelle des leidigen Worts Antisemitismus verwendet wissen will. Zunächst einmal bedeute es Judenhass. Hass aber sei „keine Meinung“. Hass sei am Ende „pure Gewalt“ – hier gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen. Damit erschöpfe es sich aber nicht. „Wenn auf eine Gruppe ein kollektiver Hass draufgetan wird, dann sind wir alle gemeint.“ Denn: „Wir alle sind Menschen.“ Und, warnt Friedman: „Hass ist hungrig, er wird nie satt.“
Als Hass auf die Juden fand er in Deutschland Nahrung, lange bevor Israel auf den bestialischen, mörderischen Überfall der Hamas auf jüdische Menschen mit einem Kriegseinsatz gegen die Terrortruppe im Gazastreifen reagierte. „Alles war schon vor dem 7. Oktober da“, betont Friedman. „Es gibt keinen Tag in diesem Land ohne Neonazis und Rechtsterrorismus.“ Rassismus und Judenhass seien mithin „ein strukturelles Problem in der Gesellschaft“.
Der deutschen Politik seit 1949 stellt Friedman, der selbst einmal in der CDU sehr aktiv war und von 1994 bis 1996 dem Parteivorstand angehörte, ein desolates Zeugnis zu ihrem Umgang mit der Judenfeindlichkeit aus. Sie habe „seit der Gründung der Bundesrepublik versagt, sonst wären wir nicht in dem Zustand, in dem wir heute sind“. Zur Illustration hat Friedman gleich zu Beginn seines Gesprächs mit den Kölner Jugendlichen auf den Unterschied zwischen ihrer Schule und jüdischen Schulen aufmerksam gemacht, wo ungestörtes Lernen nur unter Bewachung möglich ist. Wenn die Polizei wie selbstverständlich zum Leben von Kindern und Jugendlichen gehört – „was bedeutet das?“, fragt Friedman und schaut in die Runde. Und dem gespannten Schweigen ist anzumerken, dass es jetzt in den Köpfen arbeitet.
Friedman wiederum merkt man an, dass er genau das will: dass seine jungen Zuhörerinnen und Zuhörer ins Nachdenken, besser ins Mitdenken kommen. Ob Hass zur Natur des Menschen gehöre, lautet eine Frage, die sie sich vorher überlegt haben. Oh, sagt Friedman, das könne und wolle er nicht sagen. Er sei schließlich weder Biologe noch Priester oder Rabbiner.
Wortgewandt, charismatisch, sendungsbewusst
Etwas von einem Prediger hat er aber schon: wortgewandt, charismatisch, sendungsbewusst. „Lasst euch nicht verführen zum Hass!“, ruft er. „Und habt keine Angst, zu sein wer ihr seid.“
Gegenwehr gegen Diskriminierung, Hass sei jedem möglich, betont Abraham Lehrer, schon auf dem Schulhof. „Ihr müsst keine Helden sein, aber ich glaube, ihr seid alle stark genug, anderen zu sagen, was erzählt du da? Ihr könnt aufstehen und euch mit Worten widersetzen.“ Wenn nicht, warnt Friedman, „werdet ihr vielleicht eines Tages leider erleben, dass die Freiheit, die wir genießen, und die freie Meinung überhaupt nichts mehr zählen.“
Friedman, der Herold der Vielfalt und – sozusagen als deren Zwilling – einer guten Streitkultur. „Streit ist etwas Wunderbares. Ich kann gar nicht genug davon bekommen. Streit wird euer ganzes Leben lang wichtig sein.“ Aber er muss mit Argumenten geführt werden, nicht mit bloßen Anmutungen.
Wie aber reden mit Menschen, die Hass artikulieren oder Extremisten sind? Die 15 Jahre Luzia stellt diese Frage nach einem Erlebnis in der S-Bahn, als jemand sie mit seinen Schreiereien wütend gemacht habe. „Ein schweres Geschäft“, sagt Lehrer und empfiehlt, sich von der Erwartung zu verabschieden, mit Extremisten ein normales Gespräch führen zu können „Sonst ist man total frustriert.“
Mit manchen könne man nicht reden, sagt auch Friedman. Er jedenfalls nicht und nennt namentlich den Thüringer AfD-Funktionär Björn Höcke, mit dem zu diskutieren er ablehne, weil Höcke nicht diskutieren würde – im Sinne der zuvor geforderten Streitkultur. Dann aber denke er schon auch an den „großen Zwischenraum der Unentschiedenen“, die vielleicht noch erreichbar seien. Deswegen müsse man sich anstrengen und sich zu allem, was Extremisten sagen, fragen: Wie denke ich darüber und wie spreche ich darüber mit Menschen, die für Argumente noch erreichbar sind. Als Antwort auf die ihm gestellte Frage seien das „nur Splitter“, die er im Kopf habe, räumt Friedman ein. „Und manchmal schneide ich mir damit auch in die Finger.“
Michel Friedman: Judenhass: "7. Oktober 2023", Berlin Verlag, 112 Seiten, 12 Euro.