AboAbonnieren

Mina Salehpour am Schauspiel Köln„Wenn man auswandert, das bricht jeden“

Lesezeit 6 Minuten
Die Theaterregisseurin Mina Salehpour blickt in die Kamera.

Theaterregisseurin Mina Salehpour inszeniert jetzt am Schauspiel Köln

Mina Salehpour ist als Kind mit ihren Eltern aus dem Iran nach Deutschland gekommen. In Köln inszeniert sie jetzt im Depot eine berühmte Fluchterzählung der Autorin Ágota Kristóf.

Die Theaterregisseurin Mina Salehpour, 1985 in Teheran geboren, feiert am Freitag, dem 31. März, Premiere am Schauspiel Köln mit der Romantrilogie „Das große Heft“/ „Der Beweis“/„Die dritte Lüge“ der ungarisch-schweizerischen Autorin Ágota Kristóf, einer gefeierten Erzählung von Krieg, Flucht und dem Überleben im Exil. Im Gespräch verrät Salehpour, inwieweit sie hier ihre eigene Geschichte wiederfindet. Und warum die wahre Gewalt in der Sprache liegt.

Mina Salehpour, Sie inszenieren am Schauspiel Köln Ágota Kristófs berühmte Romantrilogie „Das große Heft“/„Der Beweis“/„Die dritte Lüge“. Ein Auftrag oder Ihre Idee?

Mina Salehpur: Das Projekt liegt schon sehr lange in der Schublade bei mir, eigentlich schon seit meiner Hannoveraner Zeit. Daniel Nerlich, ein enger Freund und Kollege aus dem Ensemble von Lars-Ole Walburg, hatte mir die Romane empfohlen. Aber dann habe ich mich doch für „Extrem laut und unglaublich nah“ von Jonathan Safran Foer entschieden, weil das ein kompliziertes Bühnenkonzept hatte, uns die Hannoveraner Bühne aber sehr vertraut war.

Was hat Sie zuerst an Kristófs Geschichte fasziniert?

Ihre Themen sind die, die auch mich und mein Team bei unserer Arbeit interessieren: Die Straße ist so ein Motiv, die Familie, die Identität und die Grenze. Auch die Frage: Was ist die Wahrheit? Und dass die Geschichte so etwas Märchenhaftes hat, dass sie nicht mit der Realität in Konkurrenz tritt. Später gab es dann andere Inszenierungen von „Das große Heft“. Eine habe ich gesehen, aber es hat mich mehr interessiert, die Romane als Trilogie zu inszenieren.

Warum?

Weil nicht nur der Krieg in „Das große Heft“ eine Rolle spielt, sondern vor allem das, was anschließend mit den Menschen passiert. Wenn Menschen Grenzen überqueren müssen, erleiden sie einen Identitätsverlust, ein Trauma, das sich das durch das ganze Leben zieht. Die Geschichte ist nicht mit der Flucht beendet, sie beginnt dann erst.

Die Schauspieler Bruno Cathomas (l.) und Seán McDonagh stehen sich gegenüber und schreien sich an. Sie tragen weiße Hemden, ihre Köpfe sind mit Lehm verschmiert.

Bruno Cathomas (l.) und Seán McDonagh in „Das große Heft“/ „Der Beweis“/„Die dritte Lüge“

Sie sind 1994 mit ihren Eltern aus dem Iran nach Deutschland gekommen. Rührt Ihr Interesse auch aus der eigenen Biografie?

Ja, das hat natürlich mit meiner Migrationsgeschichte zu tun. Aber so eine Migrationsgeschichte ist doch in den meisten Fällen eine Familiengeschichte, oder? In dem Kontext ist sie für mich spannend. Alles andere ist Politik. Aber sobald es eine Geschichte wird, bin ich dafür zu haben: Was das mit den Leuten macht und wie man Traumata an seine Kinder weitergibt. Es gibt ja diese Drei-Generationen-Regel, dass immer drei Generationen von so einer Flucht- oder Migrationsgeschichte beeinflusst sind. Das trifft absolut auf meine eigene Erfahrung zu.

Ágota Kristof ist während des Zweiten Weltkriegs in Ungarn aufgewachsen, musste 1956 nach dem Ungarischen Volksaufstand aus dem Land fliehen. Gibt es nicht aktuell genügend Geschichten, die noch näher an Ihren eigenen Erfahrungen sind?

Ich würde nicht unbedingt Sachen nehmen, die tagesaktuell geschrieben werden. Das ist mir zu nah. Als Geschichtenerzählerin brauche ich einen gewissen Abstand. Deswegen inszeniere ich ja auch fast ausschließlich Romane, deren Bühnenfassung wir immer selbst zusammen mit den Spieler*innen erstellen. Ich zerhacke ungern die Dramaturgie der Romane, wie man das in Deutschland gerne macht. Ich möchte, dass einfach nach vorne erzählt wird.

Ich weiß den Zeitpunkt nicht mehr, an dem ich begonnen habe, auf Deutsch zu denken oder zu träumen.
Mina Salehpour

Was gefällt Ihnen so am Moment des Erzählens?

Dass wir Archivare sein können. Dass wir die Wahrheit hinterfragen können. Existiert überhaupt die eine Wahrheit? Aus wie vielen Perspektiven kann man eine Geschichte betrachten? Durch die Erzählung kann man Zeugin sein, von Zeiten, die man nicht selbst erlebt hat.

Die Anklänge, die zwischen Kristófs Romanen und der Jetztzeit bestehen, muss man wohl kaum benennen?

Genau. Als wir entschieden haben, das zu machen, gab es noch keine Kriegserklärung. Jetzt lese ich gestern davon, wie die Kriegsverbrechen in der Ukraine dokumentiert werden sollen, gleichzeitig bin ich auf Instagram total in der „Woman. Life. Freedom“-Bewegung im Iran involviert, oder telefoniere mit meiner Tante in Teheran darüber, was man dagegen unternehmen kann, dass mein Cousin eingezogen werden soll. Diese Themen liegen also vor der Tür. Deswegen wird es im Stück überhaupt keinen Kommentar zum aktuellen Geschehen geben. Ich muss einfach nur diesen Text mit seiner ungeheuren Halbwertzeit erzählen und jeder wird ihn verstehen.

Sie bringen die Romane mit nur zwei Schauspielern auf die Bühne, Bruno Cathomas und Seán McDonagh. War das von Anfang an so geplant?

Ja, es geht darum, die Einsamkeit herzustellen. Seán und Bruno haben eine ganz besondere Beziehung. Den ersten Teil des Abends werden sie 50 Minuten lang im Chor sprechen. Dazu muss man sich richtig gut kennen, das ist harte Arbeit. Aber die zwei sind unglaubliche Spieler, die haben jetzt schon den gleichen Atemrhythmus, den gleichen Herzschlag, wenn sie anfangen zu sprechen. Es geht auch um den Aspekt des Selbstverlustes: Ich bin mir beim Überqueren der Grenze selbst abhanden gekommen. Wenn man migriert, das bricht jeden. Die Frage ist, wie man sich nachher wieder zusammensetzt. Manche werden ein bisschen krumm, andere nehmen eine ganz neue Gestalt an, einige schaffen es, fast wieder ganz zu werden. Das kann ich auch an meiner Familie gut beobachten.

Was können Sie noch von ihrer Kindheit im Iran erinnern?

Das Früher ist nicht wichtig. Das sind nicht die prägenden Dinge. Das, was danach passiert ist, ist wichtig. Wie sich die Eltern verändern. Wie Dinge, die sie sich für ihr Leben überlegt haben, plötzlich nicht mehr gelten. Wie sich die Rollen umkehren, von den Eltern zu den Kindern. Wie man nicht will, dass sie die alte Sprache sprechen, weil die Leute sich dann nach einem umdrehen. Wie man mit 14 die Steuererklärung macht. Die Blicke der Leute, die freundlichen, aber auch die unfreundlichen. Ich weiß den Zeitpunkt nicht mehr, an dem ich begonnen habe, auf Deutsch zu denken oder zu träumen. Das ist doch dieses neu zusammensetzen, das ist doch nicht die gleiche Person.

Und das sind Erfahrungen, die Sie in Kristófs Romanen wiedergefunden haben?

Mein Vater hat sich in beinahe schizophrenen Haltungen selbst zerlegt, bis zum absoluten Verlust der eigenen Identität. Durch Alkohol, durch Gewalt, durch Nicht-Mehr-Sprechen, durch Hass. Das war eine Zerstörung von innen heraus. Weil es sich nicht mehr richtig zusammengesetzt hat. Und genau das hat Ágota Kristóf auch beobachtet.

Was konnten Sie von der Autorin lernen, das ihnen vorher nicht wirklich bewusst war?

Dass Gewalt kein großes Bild braucht. Dass die Einfachheit die Gewalt birgt. Dass bei diesen Romanen die wahre Gewalt in der Sprache liegt.

„Das große Heft“/„Der Beweis“/ „Die dritte Lüge“ feiert am 31. März Premiere im Depot 2, weitere Termine: 2., 11., 20. April, 4., 14., 31. Mai