Deutsche Schüler kennen ihn als „MrWissen2go“. Zum 75. Geburtstag der Bundesrepublik hat sich Mirko Drotschmann auf eine Reise durch Deutschland begeben.
„MrWissen2go“ Mirko DrotschmannGeschichtsunterricht im Schnelldurchlauf
Keine Partys, kein Feuerwerk und keine großen Schlagzeilen – die Gründung der Bundesrepublik am 23. Mai 1949 war den Zeitungen gerade mal eine Meldung wert. „Das war ja kein Staat für alle Deutschen, und das Ziel war die Wiedervereinigung. Deswegen war die Euphorie erstmal nicht so groß“, sagt der Historiker Mirko Drotschmann. Die BRD habe man zu Beginn eben nur als Provisorium gesehen.
Die Wiedervereinigung sollte – wie wir heute wissen – noch mehr als 40 Jahre auf sich warten lassen. 40 Jahre, in denen Geschichte geschrieben wurde: Wirtschaftswunder, „Gastarbeiter“, Mauerbau, RAF, Pillenknick, die Grünen neu im Bundestag. All diese und noch viele weitere Ereignisse lässt der Moderator in der Dokumentation „75 Jahre Deutschland: Der große Test“ Revue passieren. Geschichtsunterricht im Schnelldurchlauf - inklusive Test: Mirko Drotschmann ist durch Ost- und Westdeutschland gefahren, um nachzufragen, wie viel die Menschen überhaupt noch wissen über die Geschichte der BRD. Zusätzlich zu diesen Zufallsergebnissen gibt es eine repräsentative Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen.
Warum es gar nicht so schlecht ist, manche Geschichtsdaten im Kopf zu haben
Aber ist so ein Abfragen von Daten, Fakten, Zahlen wie in der Schule überhaupt noch zeitgemäß? Ist es nicht viel wichtiger zu wissen, dass es eine Mauer gab und vor allem: warum? „Ach, es ist gar nicht schlecht, manche Dinge im Kopf zu haben – von diesem Datum aus kann man sich dann auch gut andere Dinge merken kann“, sagt Mirko Drotschmann im Gespräch mit dieser Zeitung. „Ich habe selbst Geschichte studiert und auch immer mit solchen Jahresmarken gearbeitet.“ Trotzdem findet er, dass in der Schule immer noch viel zu stark auf das Auswendiglernen gesetzt wird: „Vieles hat man ja wirklich in einem Bruchteil einer Sekunde mit dem Handy nachgeschaut.“
Die Ergebnisse der repräsentativen Umfrage sind insgesamt solide. Interessanterweise kennen das Gründungsjahr der BRD mehr Menschen im Osten (43 Prozent) als im Westen (35 Prozent). Wer der erste Bundeskanzler der Bonner Republik war, wissen in Westdeutschland 77 Prozent, in Ostdeutschland 62 Prozent. Dagegen gehört der programmatische Satz „mehr Demokratie wagen“ von Willy Brandt, dem ersten SPD-Kanzler, nicht mehr zum Allgemeinwissen. Und auch die große Zahl an Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten (etwa 12 bis 14 Millionen) kennen nur sehr wenige der Befragten.
Für seine Dokumentation sprach Mirko Drotschmann mit Theo Waigel und Peter Maffay
Für die Dokumentation hat Mirko Drotschmann nicht nur das Wissen von Passanten getestet – er hat auch Expertinnen und Experten befragt und mit Promis und Zeitzeugen gesprochen. Mit dem ehemaligen Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) zum Beispiel und mit Peter Maffay, der das Lied „Über sieben Brücken musst Du geh'n“ von der DDR-Rockband Karat gecovert hat.
Auch den Lyriker und Liedermacher Wolf Biermann hat er getroffen. Als einer der ganz wenigen zog Biermann Anfang der 1950er nicht von Ost nach West, sondern andersherum – jung und begeistert von der Idee des Kommunismus. Sogar den Mauerbau, erzählt er in der Dokumentation, hätten er und seine Freunde damals befürwortet: „Weil wir der Meinung waren, dass in diesem ehemaligen Nazi-Deutschland die DDR die Chance haben muss, es besser zu machen.“ Doch schnell wurde er ernüchtert: Seine Lieder wurden verboten und nach einem legendären Auftritt in Köln 1976 wurde er schließlich „ausgebürgert“ - das DDR-Wort für „rausgeschmissen“. Für viele war das der Anfang vom Ende der DDR.
Die Trümmer, die Vertriebenen, die Unterdrückung im Osten Deutschlands, aber auch der RAF-Terror – das alles werde im Rückblick oft verklärt, wenn man auf die 75 Jahre Bundesrepublik nur als gemütliches Wirtschaftswunderland zurückblickt, findet Drotschmann. Trotzdem habe man damals deutlich optimistischer in die Zukunft geblickt. Vor allem in Westdeutschland habe man geglaubt, dass es immer bergauf gehe, dass der Wohlstand immer weiter wachse. „Das hat sich ja momentan eher ins Gegenteil verkehrt.“
Was ihm selber Sorgen macht, wenn er an die nächsten 75 Jahre BRD denkt? Definitiv der Klimawandel, sagt Mirko Drotschmann. Aber auch die Sozialen Medien: „Ich bin in den Neunzigern groß geworden und für mich hat das Internet die ganze Gesellschaft wie noch nie verändert – im Moment leider zum Negativen“. Interessant, dass das ausgerechnet jemand sagt, der als „MrWissen2go“ mehr als zwei Millionen Follower bei YouTube hat. Oder vielleicht genau deswegen? „Die Algorithmen der Sozialen Medien führen dazu, dass wir immer mehr in Filterblasen und Echokammern gefangen sind, dass wir nicht mehr über den Tellerrand hinausschauen, immer weniger in der Lage sind, Diskurse zu führen“, sagt er. In den USA könne man sehen, wie die Gesellschaft auseinander driftet und „eine ähnliche Tendenz erleben wir auch bei uns in Deutschland.“
Judenfeindliche Tendenzen waren in Deutschland nie wirklich weg, meint Mirko Drotschmann
Wie viel der Blick in die Geschichte mit dem Heute zu tun hat, wird beim Thema Antisemitismus deutlich, mit dem sich die Dokumentation auch beschäftigt. Für Mirko Drotschmann zeigen die aktuellen judenfeindlichen Tendenzen in Deutschland „dass vieles nie wirklich weg war. Man hat es einfach nur nicht gesehen oder sehen wollen.“
Es gäbe also genug Gründe, an der aktuellen politischen Situation zu verzweifeln. Ihm hilft sein Geschichtsstudium, den Optimismus nicht zu verlieren. „In manchen Punkten, so blöd das klingt, beruhigt mich das ein Stück weit: Das Wissen, dass es ähnliche Krisen schon mal gab und wir sie irgendwie überwunden haben.“ Wenn es zum Beispiel um die atomare Bedrohung geht, helfe ihm der Blick in die Geschichte, zu sehen: „Am Schluss waren die Menschen dann doch noch vernünftig und sind nicht zum Äußersten gegangen.“ Nach einer kurzen Pause sagt Mirko Drotschmann: „Aber leider haben wir es ja jetzt auch mit Akteuren zu tun, die ein Stück weit unberechenbar sind.“
Das geteilte Deutschland hat er selbst gar nicht mehr erlebt – bei der Wiedervereinigung war er gerade drei Jahre alt. Was für ihn persönlich die prägendsten politischen Ereignisse waren? „Weltpolitisch sicher der 11. September 2001 und alles, was damit zusammenhängt.“ Und dann natürlich die Pandemie. „Auch eine Zäsur, die etwas mit uns als Gesellschaft gemacht hat und die sicherlich noch ganz lange nachwirken wird.“
Wenigstens eine positive Erinnerung möchte er gerne noch teilen: „Die WM 2006 in Deutschland, die auch für mich ein ganz tolles Ereignis war. Ich war damals Reporter beim Radio und habe diese tolle, offene Stimmung erlebt. Da hat man Deutschland von einer Seite gesehen, die viele im Ausland gar nicht kannten.“
„75 Jahre Deutschland: Der große Test“ ist in der ZDF Mediathek zu sehen.
Mirko Drotschmann,38, alias „MrWissen2Go“ ist Journalist, Youtuber und Webvideo-Produzent mit Schwerpunkt Geschichte, Politik und Gesellschaftsthemen.