Der Kölner Autor Jürgen Becker gehört zu den herausragenden Autoren der deutschsprachigen Literatur der Nachkriegszeit. Am Donnerstag, 7. November, ist er gestorben.
Nachruf auf Jürgen BeckerMit ihm endet eine Ära
Ein aktives Leben bis ins hohe Alter zu führen – das ist Jürgen Becker geglückt. So ist in diesem Jahr sein Band „Nachspielzeit - Sätze und Gedichte“ erschienen. Und damit war es für den Schriftsteller nicht getan. Nach dieser Veröffentlichung lag die Schreibkladde weiterhin aufgeschlagen auf dem Küchentisch. Wenn er nichts zu Papier brachte und ihm danach war, stieg Jürgen Becker in seinen Wagen, um sich eine Tageszeitung und eine Packung „Gitanes“ zu kaufen. Auch hat er es erst spät zugelassen, dass sein Sohn Boris Becker für ihn den Rasen im Garten mähte.
„Wer wird vom eigenen Jahrgang der letzte sein“, lesen wir in der „Nachspielzeit“, „man schaut sich um und blickt in den Spiegel, der auch nicht sagen kann, ab wann man nicht mehr da ist“. Nun ist Jürgen Becker im Alter von 92 Jahren gestorben, am Donnerstag in seinem Haus in Köln-Brück.
1932 in der Strundener Straße in Köln geboren, zählt Jürgen Becker zu den herausragenden Autoren der deutschsprachigen Literatur der Nachkriegszeit. Vielfach wurde er geehrt. Zu den Auszeichnungen gehört der Georg-Büchner-Preis (2014) und der Heinrich-Böll-Preis (1995). Zudem war er im Jahre 1967 der letzte Preisträger der Gruppe 47. Der Autor hatte zunächst für den WDR und den Rowohlt-Verlag gearbeitet. Kurze Zeit war er Leiter des Theaterverlags bei Suhrkamp, dann von 1974 bis 1993 Leiter der Hörspielabteilung des Deutschlandfunks in Köln.
„Ruhe ist nicht angesagt“ steht im Schlusssatz der „Nachspielzeit“. Ursprünglich wollte Jürgen Becker den Band Ende August im Literaturhaus Köln vorstellen. Allerdings musste er dann doch aus gesundheitlichen Gründen absagen. Der augenzwinkernde Titel, der auch auf den Fußballfreund Becker verweist, war der Tatsache geschuldet, dass zwei Jahre zuvor der voluminöse, scheinbar alle Schreibaktivitäten abschließende Band „Gesammelte Gedichte – 1971 bis 2022“ erschienen war. Darin finden sich auch Collagen seiner 2021 verstorbenen Ehefrau Rango Bohne sowie Fotografien seines Sohnes Boris Becker.
„Schreiben besteht aus Warten – auf die nächste Zeile“, hatte Jürgen Becker einmal erklärt. Allerdings hat er wohl nie lange warten müssen. Sein umfangreiches Werk liegt im Suhrkamp Verlag vor. Es bietet Lyrik, Romane, Erzählungen und Hörspiele.
Legendär sind die frühen Prosaexperimente „Felder“ (1964) und „Ränder“ (1968), mit denen sich Jürgen Becker gegen den etablierten Roman und seinen auktorialen Erzähler wandte. Zeitlebens verwies er darauf, sich keinen Plot ausdenken zu können. Seine Sache war das Erleben, das Erfahren und das Erinnern. Zunehmend wurde sein Werk geprägt von der Form des Journals – auf diese Weise entstanden Journalgedichte, Journalgeschichten, Journalsätze, Journalromane.
Variationen gehören zu seiner Poetik
Dabei handelt es sich oft um Beobachtungen des Tages, die verwoben werden mit Erinnerungen an zum Teil weit zurückliegende Begebenheiten. Variationen gehören zu seiner Poetik. Denn auch die Erinnerung wandelt sich. Im Gedichtband „Die Rückkehr der Gewohnheiten“ steht geschrieben: „Eine Erinnerung wiederholt sich, aber sie scheint sich / verändert zu haben, denn jetzt erzählt sie alles ganz anders.“
Jeder Augenblick, das war seine Erkenntnis, führe zurück in die Vergangenheit. „Das Vergangene wirkt weiter.“ Der Zweite Weltkrieg war ein immer wieder aufblitzendes Thema. Ebenso die deutsch-deutsche Teilung. Als er sieben Jahre alt war, zog die Familie für einige Jahre von Köln nach Erfurt; dort hörte er zum ersten Mal nicht mehr im Radio, wo die Front verlief, sondern vernahm das Geschützfeuer unmittelbar. Zurück im Rheinland, wurde er von jedem Gewitter, das in der Ferne grollte, daran erinnert.
Die Kriegsjahre waren lebensprägende Erfahrungen. Diese lösten ein ums andere Mal einen Schreibimpuls aus. Aber auch die Landschaft, die offene wie die verbaute, bot ihm Inspiration. Zudem der Garten in Brück oder in Odenthal mit Blick auf Vögel, Obstbäume und Schnee.
Geradlinig und pointiert
Sein Stil ist so geradlinig wie pointiert, so zuweilen lapidar im Gestus und so intensiv nachwirkend im Effekt. Der Jürgen-Becker-Sound klingt so: „Kein Schmetterling kommt, wenn du nach ihm rufst. / Lebst du allein, sprichst du mit dir selber. / Das Weiterleben kannst du auf morgen verschieben, / aber Brot holen musst du schon heute.“
Nach dem Krieg kehrte Jürgen Becker über Waldbröl im Jahre 1950 in seine Geburtsstadt Köln zurück. Das sei seine Stadt, sagte er vor zwei Jahren. Trotz alledem. „Ich finde, Köln ist sehr menschlich mit all den Fehlern und Schwächen – das hält meine Sympathie für die Stadt nach wie vor am Leben.“ Und Jürgen Becker war der Autor der Stadt, die in sehr vielen seiner Texte aufscheint. Hier war er neben Heinrich Böll und Dieter Wellershoff einer der drei Literatur-Granden der Nachkriegszeit. Mit Jürgen Beckers Tod endet diese Ära endgültig.