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Navid Kermanis „Das Alphabet bis S“Dieser Roman lohnt sich schon für die Buchtipps

Lesezeit 5 Minuten
Kermani hat ein Hemd an, das er am Ärmel leicht hochgekrämeptk hat. Er steht an einem Punkt und redet in ein Mikrofon, im Hintergrund eine verschwommene Person.

Navid Kermani bei der Eröffnung der Aktionswoche verbrannt & verbannt in der Zentralbibliothek.

In Navid Kermanis Buch „Das Alphabet bis S“ durchkämmt eine krisengebeutelte Protagonistin ihr Bücherregal nach bisher ungelesenen Autoren. Der Roman ist ein reiches und bereicherndes Kompendium zu Fragen der Zeit.

Was für ein Jahr! Was für ein Winter, Frühling, Sommer, Herbst und wieder Winter für die bundesweit bekannte Intellektuelle aus Köln. In dieser Zeit muss sie eine dreifache Last tragen. Da ist zunächst und unentwegt die Trauerarbeit um die verstorbene Mutter. Zudem haben sich die namenlos bleibende Frau und ihr Ehemann getrennt. Und dann erkrankt ihr Sohn lebensgefährlich – ein „Alptraum“, der auch die eigene Berufstätigkeit tangiert. Wie die Frau dieses Jahr 2018 zwischen Leben und Tod übersteht, schildert Navid Kermani in seinem kraftstrotzenden Roman „Das Alphabet bis S“.

Kraftstrotzend ist der 600-Seiten-Band vor allem deshalb, weil sich die Frau entschließt, an jedem Tag Notizen zu machen. Und die haben es in sich. Die Bestseller-Autorin, die ihr öffentliches Renommee häufig erwähnt, wird des Denkens nicht müde. Zwar stellt sie fest: „Überhaupt denke ich zuviel.“ Gleichwohl entwickelt sie selbst aus ihrem Mittagsschlaf oder den Joggingrunden grundsätzliche Betrachtungen. Umso tiefer tauchen ihre Eintragungen, wenn es um Gott und die Welt im Grundsätzlichen geht.

Navid Kermani: „Das Alphabet bis S“

Die Frau, deren Eltern aus dem Iran stammen, ist traurig, wütend, besorgt, gestresst und fühlt sich zuweilen verlassen. Sie sucht Halt und Stütze. Manchmal sehnt sie sich nach Gott. „Religion“, sagt sie mit Koran und Bibel im Kopf, „ist der Umgang mit dem Schrecken, der die Natur ist.“ Und immer wieder nimmt sie Zuflucht in ihrer „Lesegruft“: „Es ist vielleicht nur ein Verstandenwerden, das mich in den Regalen umgibt, also dass seit fünftausend Jahren nicht alleine ist der Mensch.“

Daraus entwickelt die Frau einen Plan. Sie beschließt, jenen Büchern eine Chance zu geben, die sie bislang unberührt gelassen hat. Dabei geht es im Prinzip um jeweils ein Buch pro Buchstaben – allerdings kommt sie nur bis S. In diesen Werken findet sie ein ums andere Mal einen Link zum eigenen Dasein, ja, zum konkreten Augenblick. Schon zahllose Male sind Bücher als Lebenshilfe gepriesen worden. Doch die Intensität, mit der hier die Theorie in die Praxis übertragen wird, ist ohnegleichen.

Das Werk eines Literaturfreundes

Die Titelliste erstrahlt tadellos. Und die Fundstücke, die aus den Texten zitiert werden, glänzen oft. Gleich möchte man selbst zum Regal eilen und weiterlesen. Was allerdings auffällt: Die Leserin greift fast durchweg zu Werken von Männern. Nur Emily Dickinson („heikler als der Tod ist der Ehestand“) und Helene Hegmann (ein Sonderfall beim Buchstaben H) werden ausführlich gewürdigt. Ansonsten geht es um Peter Altenberg, Attila Bartis, Emil Cioran, Salvador Espriu, Shichiro Fukazawa, Julien Green, Hermann Hesse, Iliazd, Ernst Jünger, Quirinus Kuhlmann, José Lezama Lima, Thomas Melle, Peter Nadas, Ovid, Anatoli Pristawkin, Raymond Queneau, Joachim Ringelnatz und Jan Skacel.

Schon klar: Navid Kermanis Roman ist nicht zuletzt das Werk eines Literaturfreundes. Seine Erfahrungen als Autor und als Leser sind zahlreich und ergiebig. Leicht ließe sich aus dem Roman eine Poetikvorlesung zusammenzitieren, was durchaus zu empfehlen wäre, hätte der Autor eine solche nicht schon in Frankfurt gehalten und veröffentlicht: „Über den Zufall“ (2012).

Dass sich Navid Kermani für eine Frau als Protagonistin entschieden hat, aus deren Perspektive erzählt wird, mag überraschen. In dem Roman „Dein Name“, dem gar doppelt so dicken „Totenbuch“ von 2011, stand noch eine Hauptperson namens Navid Kermani im Zentrum. Nun ist der Autor bestrebt, sich in die weibliche Perspektive einzufinden, schildert er Wechseljahre (eher flüchtig) und Intimrasur (durchaus detailverliebt).

Kermanis Leben schimmert durch das Buch hindurch

Gewiss gilt, was auf dem Buchdeckel steht: Das ist ein Roman. Erfundenes gibt es zuhauf. Gleichwohl schimmern in dieser Variante der Autofiktion Stationen und Positionen des Autors deutlich durch. Seien es Navid Kermanis Werke, die er der Frau unterschiebt, sei es sein Aufwachsen in Siegen, seien es seine Reisen, darunter die Papstvisite in der Delegation von Armin Laschet, sei es die Begeisterung für Neil Young, Jean Paul („eineinhalb Regalmeter à 1,20 Meter“) oder für den 1. FC Köln (und das im Jahr des sechsten Abstiegs).

Schauplatz der fortlaufenden Ereignisse ist Köln, wo Navid Kermani lebt. Selbstverständlich bietet die Lektüre allerlei Kritisches zur Stadt, zumal zu Stadtbild und Lokalpatriotismus. Das könnte langweilig sein, weil das Köln-Bashing ja zum guten Ton gehört. Allerdings verbindet Navid Kermani – also seine Protagonistin tut es – diese Kritik mit einer Liebeserklärung, wie sie jenseits des Brauchtums nur selten zu finden ist. Da preist er das viele Grün in der Stadt. Den Rhein, „wo du das Meer witterst, die Ferne, die Ewigkeit.“ Den Dom bei Nacht, „noch viel überwältigender als bei Tag“. Und als ein Sommerabend tiefrot dämmert, ist Köln gar „für eine halbe Stunde die schönste Stadt der Welt.“

„Das Alphabet bis S“ ist ein Füllhorn. Ein Tagebuch als Denk- und Bücherbuch. Ein reiches und bereicherndes Kompendium zu Fragen der Zeit, anregend und anspruchsvoll. Es lohnt sich, im Buchhandel unter K wie Kermani nach dem Roman zu greifen.

Zu Veranstaltung und Buch

Die Lesereise startet am 6. September beim Internationalen Literaturfestival in Berlin. Auf der lit.Cologne in Köln ist der Autor am 15. Oktober um 20 Uhr im WDR-Funkhaus zu Gast.

Navid Kermani: „Das Alphabet bis S“, Hanser, 592 Seiten, 32 Euro. E-Book: 25,99 Euro.