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Nazi-Herrschaft auf AlderneyDie vergessene Hölle von „Adolf Island“

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Ein deutscher Entfernungsmessturm auf der Insel Alderney. Das Gebäude ist auch als „The Odeon“ auf der Insel bekannt. (Archivbild)

Ein deutscher Entfernungsmessturm auf der Insel Alderney. Das Gebäude ist auch als „The Odeon“ auf der Insel bekannt. (Archivbild)

Auf Alderney betrieben die Nazis ihr einziges Konzentrationslager auf britischem Boden. Ein neues Buch beleuchtet die Besatzungszeit.

Die britischen Kanalinseln vor der Küste der Normandie sind für vieles bekannt: bunte Blumen, sonnige Urlaube, eine Vielzahl internationaler Finanzfirmen und ein überwiegend sorgenfreies Leben zwischen englischen Pubs und französischer Küche. Doch überall an den Küsten zeugen bis heute schwere Betonbauten von einer Zeit, in der die Insulaner mehr Sorgen denn je hatten: die Besatzungszeit unter den Nationalsozialisten.

Im Juli 1940 landete die deutsche Wehrmacht auf der Inselgruppe und nahm sie in Beschlag. Großbritannien hatte seine Truppen kurz zuvor abgezogen – die Inseln nur wenige Seemeilen vor Frankreich wären aus Sicht der Regierung in London nicht zu halten gewesen. So hielt der Rechtsverkehr Einzug auf Jersey, Guernsey und Alderney, deutschsprachige Schilder wurden aufgehängt, die örtliche englischsprachige Zeitung erschien fortan mit deutschen Beiträgen, wie heute noch im German Occupation Museum auf Guernsey nachzulesen ist, die Besatzer gingen mit der örtlichen Polizei auf Streife und wachten über den Alltag. Nur auf einer der Inseln war alles noch etwas anders.

Besonderer Blickwinkel auf Alderney

„Alderney galt als Speerspitze des Atlantikwalls“, sagt Hartmut Lehmann. Der Historiker und Autor blickt in seinem gerade erschienenen Buch „Erinnerungsort Alderney“ aus einem besonderen Blickwinkel auf die Besatzungszeit der Kanalinsel: aus dem seines Vaters. Eduard Lehmann, ein Volksschullehrer, geboren 1905, war 1938 von Reutlingen nach Talheim in der Nähe von Heilbronn gekommen, wenig später zur Wehrmacht eingezogen und zusammen mit seiner Flakeinheit Anfang September 1943 nach Alderney versetzt worden. Er führte Tagebuch und schrieb regelmäßig Briefe an seine Familie. Seine Memoiren aus den Siebzigern sind die Basis für das nun erschienene Buch.

Unter den Kanalinseln sind vor allem die beiden größten – Jersey und Guernsey – von wirtschaftlicher Bedeutung, und auch sie waren von den Deutschen besetzt. Doch schienen die Nazis ein besonderes Interesse für die nördlichste und von den anderen weit abgelegene Insel Alderney zu haben. „Alderney hatte eine besondere Bedeutung“, beschreibt es Hartmut Lehmann, „da die Insel von den Briten fast komplett evakuiert worden war.“ Auf den anderen Inseln hingegen seien die Bewohnerinnen und Bewohner größtenteils vor Ort geblieben. „So konnten die Deutschen auf Alderney schalten und walten, wie sie wollten.“

Alderney ist die nördlichste der vor der französischen Küste liegenden Kanalinseln. (Archivbild)

Alderney ist die nördlichste der vor der französischen Küste liegenden Kanalinseln. (Archivbild)

Das führte zum Bau nicht nur eines KZ-Außenlagers auf Alderney, das „Lager Sylt“ genannt wurde. Es gab darüber hinaus drei Arbeitslager mit den Bezeichnungen Helgoland, Borkum und Norderney. Die dort gefangen gehaltenen Menschen waren überwiegend aus den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Neuengamme überstellt worden. Insgesamt befanden sich neben den rund 3800 Soldaten etwa 3000 Zwangsarbeiter und 1000 KZ-Häftlinge auf der nur rund acht Quadratkilometer großen Insel Alderney – die von der Wehrmacht „Adolf Island“ genannt wurde.

Kommission in London arbeitete die Zeit auf

Die Deutschen setzten die Häftlinge zu körperlich schwerster Arbeit ein: Sie bauten militärische Infrastruktur – überwiegend Hafen-, Abwehr- und Bunkeranlagen, außerdem mussten sie im Steinbruch arbeiten. Erst im Frühjahr dieses Jahres arbeitete eine von der Londoner Regierung eingesetzte Kommission die Vorgänge aus jener Zeit auf.

„Für die meisten, die auf die Insel geschickt wurden, war Alderney die Hölle auf Erden“, erklärt der Sonderbeauftragte der britischen Regierung für Post-Holocaust-Fragen, Lord Eric Pickles, in dem im Mai vorgestellten Dokument. Nach Recherchen der Kommission starben durch die Besatzer auf Alderney wahrscheinlich mehr als 1000 Menschen – deutlich mehr als zuvor angenommen. „Gefangene wurden schrecklich behandelt, und das Leben war nichts wert“, führt Pickles weiter aus. Doch habe Alderney keine Art „Mini-Auschwitz“ beherbergt, wie zuvor oft vermutet worden war. „Es gab kein Vernichtungszentrum auf der Insel.“ Die Menschen starben vielmehr durch die Arbeit und durch den Transport vom Festland.

Der Pickles-Report äußert auch Kritik an der damaligen britischen Regierung. Die habe es nach Kriegsende versäumt, gegen die deutschen Täter vorzugehen. Dabei seien diese den britischen Behörden bekannt gewesen.

Inspektor Barnaby über die Besatzungszeit

Der britische Schauspieler und Historiker John Nettles – in Deutschland bekannt als Inspektor Barnaby – hat die Besatzungszeit der Kanalinseln bereits 2013 in seinem Buch „Hitlers Inselwahn“ (Osburg-Verlag) aufgearbeitet. Er kommt darin zu dem Schluss, dass diese Phase die Insulaner schwer geprägt habe. „Fünf Jahre voller Elend, verschuldet allein von den Deutschen“, urteilt Nettles. „Eine Welt, in der es die meiste Zeit über nicht genug zu essen gab und es an Kleidung, Treibstoff und Medizin mangelte.“ Nur wenige Bewohner seien später in der Lage gewesen, den Deutschen zu verzeihen. Nettles hat eine besondere Beziehung zu Jersey, wo er in den Achtzigerjahren seine erste erfolgreiche Serie „Jim Bergerac ermittelt“ drehte.

Historiker Lehmann zeigt in seinem Buch fast 80 Jahre nach Kriegsende die andere Seite der Geschichte. Die späte Aufarbeitung der Erlebnisse habe familiäre Gründe gehabt. „Als ich selbst Geschichte studierte, fragte ich meinen Vater immer wieder nach der Zeit auf den Kanalinseln.“ Doch der habe immer wieder das Gespräch abgeblockt. Dabei sei sein Vater kein überzeugter Nationalsozialist gewesen, betont Lehmann. „Er hatte SPD gewählt, solange es ging“, sagt er. Nach der Machtergreifung Hitlers habe sich der tief enttäuschte Lehrer vor allem dem Schach gewidmet und sei schließlich von der Armee eingezogen worden. Als Soldat aber sei sein Vater durchaus pflichtbewusst gewesen, hat Hartmut Lehmann in Briefen und Aufzeichnungen recherchiert. Die Rückeroberung Alderneys durch die Briten habe er als tiefe Demütigung empfunden.

Neue Nutzung für alte Abwehranlagen

Auf Alderney und den anderen Kanalinseln ist die Erinnerung an die Besatzungszeit bis heute omnipräsent – vor allem durch massive Betonhinterlassenschaften der Wehrmacht. Zwar hatten die Deutschen in den letzten Kriegstagen ihr KZ und die weiteren Arbeitslager niedergebrannt, doch schwere Flakstellungen und Abwehrtürme erinnern noch immer an die Zeit der Besatzung. Manche wurden umgenutzt – etwa für eine Austernzüchtung auf Jersey –, die meisten jedoch stehen leer und sind für Touristen zum beliebten Fotomotiv geworden.

Die Besatzungszeit stößt bei Reisenden auf größtes Interesse: Geschichtstouren zählen zu den beliebtesten Aktivitäten. Zudem sind Museen wie das German Underground Hospital auf Guernsey oder die Jersey War Tunnel – allesamt von Zwangsarbeitern unter den Nazis in die Berge gehauen – stark besuchte Attraktionen. Immerhin einmal im Jahr erinnern sich die Bewohnerinnen und Bewohner an das Ende der Besatzung: Der Liberation Day am 9. Mai ist auf den Kanalinseln gesetzlicher Feiertag.

Hartmut Lehmann: „Erinnerungsort Alderney. Spurensuche im Beton“. Vergangenheitsverlag. 168 Seiten, 16 Euro