Menschen überleben einen Flugzeugabsturz, indem sie das Fleisch der Verstorbenen essen. Der Film basiert auf einer wahren Geschichte. Wie ist das Verhalten aus ethisch-philosophischer Perspektive einzuordnen?
Netflix-Drama „Die Schneegesellschaft“Gibt es Fälle, in denen Menschenfleisch essen moralisch gerechtfertigt ist?
„Es ist ein Gedanke, der langsam heranwächst, ein Produkt des Hungers“, sagt Robert Canessa in einem Interview mit der „Deutschen Welle“. Er war an Bord des Flugs 571 von Uruguay nach Chile, zusammen mit 44 anderen Menschen: Mitglieder einer Rugby-Mannschaft, Betreuer und Angehörige. Das Flugzeug zerschellte im Hochgebirge der Anden. Einige Passagiere starben sofort, andere erfroren. Als sie nichts mehr zu essen hatten, ernährten sich Canessa und die anderen Überlebenden vom Fleisch ihrer toten Freunde. Diese Tragödie ist vor mehr als 50 Jahren passiert – und rückt aktuell durch den Film „Die Schneegesellschaft“, der gerade bei Netflix zu sehen ist, wieder ins Bewusstsein.
Nach mehr als zwei Monaten werden 16 Überlebende aus den Anden gerettet – und müssen nach der Katastrophe mit dem Gedanken leben, Menschenfleisch gegessen zu haben. „Ich fühlte mich sehr gedemütigt und empfand es als einen großen Verstoß gegen zivilisierte Prinzipien“, sagt Canessa. Aber er habe akzeptiert, dass er etwas tat, was auch andere in dieser Situation mit seinem toten Körper hätten machen dürfen. „Es wäre mir eine Ehre gewesen, den anderen auf diese Weise zu dienen.“
Wann Kannibalismus gerechtfertigt sein kann
Die meisten Menschen halten Kannibalismus für „eines der letzten ‚echten‘ Tabus“, schreibt Johann S. Ach, Bioeethiker und außerplanmäßiger Professor an der Uni Münster, in seinem Paper „Menschen essen“. Wobei Wissenschaftler Ach oft das Wort Anthropophagie nutzt. „Ethnologen unterscheiden Anthropophagie, Verzehr von Menschenfleisch, von Kannibalismus, der gruppenweise vollzogen als rituelle oder soziale Institution gilt“, erklärt das Alimentarium, ein Schweizer Museum für Ernährung.
Bioethiker Ach beschäftigt sich in „Menschen essen“ mit dem Absturz des Fluges 571 in den Anden. Er argumentiert mit der „Not-Ethik“ seines Kollegen und Philosophieprofessors Reinold Schmücker. Verstöße gegen die moralischen Normen in Fällen existenzieller Not seien unter bestimmten Bedingungen gerechtfertigt. Und zwar diesen:
Die Handlung muss dazu geeignet sein, in der akuten Notlage zu helfen. Das war bei Canessa und den anderen Überlebenden der Fall. Körperteile der Toten zu essen half ihnen dabei, am Leben zu bleiben. Die Anden-Tragödie ist übrigens kein Einzelfall. Überlebenskannibalismus habe es schon immer gegeben, erklärt Michael Wallis gegenüber „National Geographic“. „Es gab Kannibalismus auf See, Kannibalismus bei Polarexpeditionen und es gab ihn sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein, im Warschauer Getto und in Stalingrad.“ Der Historiker hat sich intensiv mit der Geschichte der „Donner Party“ beschäftigt, einer Gruppe amerikanischer Siedler, die im Winter 1846 in den Bergen eingeschlossen wurden und schließlich auch das Fleisch ihrer Verstorbenen aßen.
Die Absicht der normverletzenden Handlung darf nur sein, eine Abhilfe in der Notlage zu schaffen. Auch das trifft bei Flug 571 zu. In Interviews betonen die Überlebenden, dass sie das Fleisch anderer Menschen gegessen haben, um zu überleben, und außerdem sehr mit ihrem Gewissen zu kämpfen hatten sowie lange diskutierten. Ein anderes Motiv als das Überleben in der Notlage gab es also nicht. Das unterscheidet die Gruppe ganz klar von kannibalischen Mördern wie Armin Meiwes („Der Kannibale von Rotenburg“) oder Jeffrey Dahmer (US-amerikanischer Serienmörder). Sie töteten und aßen ihre Opfer aus Motiven wie sexueller Lust oder Besitzdenken.
„Sie darf nur in einer Situation ausgeführt werden, in der die vorliegende Notlage unzumutbar ist und nicht ohne Verstoß gegen moralische Normen abgewendet werden kann“, schreibt Ach. Auch das trifft auf den Anden-Absturz zu: Hätten die Überlebenden darauf verzichtet, das Fleisch der Toten zu essen, wären sie verhungert. Andere Nahrungsquellen gab es im Hochgebirge nicht.
Außerdem dürfe die Handlung, die Normen verletzt, nicht in eine weitere Notsituation führen, „in der ein moralisch geschütztes Gut gleichen oder höheren Ranges bedroht ist“. Menschenfleisch zu essen, ist eine krasse Verletzung von in vielen Gesellschaften geltenden Normen. Allerdings: Die Alternative wäre für die Verunglückten der Tod gewesen.
Fazit: Kannibalismus in der Not
Bioethiker Ach kommt zu dem Schluss, dass es als moralisch gerechtfertigt gelten müsse, dass die Überlebenden des als „Wunder der Anden“ bekannt gewordenen Flugzeugabsturzes Menschenfleisch gegessen haben. Sein Fazit lautet: „Auch wer Anthropophagie grundsätzlich für moralisch falsch hält, hat damit gute Gründe, zumindest Fälle von Not-Kannibalismus für gerechtfertigt zu halten.“
Er betont aber auch, dass Menschen, die Menschenfleisch essen, „vermutlich fast immer moralisch falsch“ handeln. Dabei gehe es aber in den meisten Fällen wohl nicht um den Verzehr an sich, sondern darum, dass solche anthropophagen Handlungen „mit der Tötung eines Menschen einhergehen und/oder gegen den Willen der kannibalisierten Person erfolgen“.
Letzteres trifft auf den Flug 571 nicht zu, sagen Überlebende. „Wir schlossen untereinander einen Pakt“, erzählt Nando Parrado, ein weiterer Überlebender, in einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“. „Wir haben unter uns Überlebenden unseren Körper mit vollem Gewissen und Willen gespendet.“