Die Netflix-Doku „The Greatest Night in Pop“ zeigt, was passierte, als die größte US-Stars 1985 eine Wohltätigkeits-Single aufnehmen wollten.
Neue Netflix-DokuWelcher Star sich bei den Aufnahmen zu „We Are the World“ daneben benahm
Bob Dylan, erinnert sich Lionel Richie, fühlte sich am unwohlsten. Die Bewegtbilder von der langen Nacht in den A&M Studios an Hollywoods LaBrea Avenue bestätigen Richies Einschätzung: Während die Musikstars um Dylan herum scherzen und lachen, wirkt der Held der 1960er verwirrt. Sein Gesicht signalisiert Magenschmerzen. Als er seinen Solopart einsingen soll, friert Dylan völlig ein. Nuschelt leise den Refrain mit: „We are the world, we are the children.“ Wie ein Stimmbrüchiger beim Vorsingen im Musikunterricht.
Quincy Jones schickt die fast 50 Popikonen aus dem Aufnahmeraum. Allein Stevie Wonder bleibt zurück, setzt sich ans Klavier und singt Dylan in perfekter Imitation seiner Stimme vor, was man sich von ihm wünscht. Das funktioniert. Bob Dylan ahmt Wonders Dylan nach, die Aufnahme ist im Kasten.
Lionel Richie will Michael Jacksons Schimpansen nicht anfassen
Es ist die Nacht zum 29. Januar 1985, „The Greatest Night in Pop“, wie der Titel einer neuen Netflix-Dokumentation vollmundig behauptet. Lionel Richie und Michael Jackson haben einen Song für Afrika geschrieben. Man will Gutes tun, Geld sammeln für die Hungernden in Äthiopien. In Großbritannien haben Bob Geldof und Midge Ure mit der Weihnachtssingle „Do They Know It's Christmas?“ bereits vorgelegt.
Die Welt ist noch nicht vernetzt, Wohltätigkeit funktioniert nach dem Schneeballprinzip: Harry Belafonte will ein Konzert für die Opfer der Hungersnot organisieren, er ruft den Entertainment-Manager Ken Kragen an. Der denkt, eine Benefizsingle wäre der Sache dienlicher. Kragen kontaktiert seinen Klienten Lionel Richie, schlägt Quincy Jones als Produzenten vor.
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Jones wiederum bringt Michael Jackson ins Spiel. Schon findet sich Richie auf dem Anwesen der Jackson-Familie im kalifornischen Encino wieder, wo er dem „Thriller“-Sänger Akkordfolgen vorspielt, der darauf Melodien summt und den ehemaligen Commodores-Frontmann mit seinem Privatzoo belästigt. „Nein, sagte ich ihm, ich will den Schimpansen nicht anfassen“, erinnert sich Richie. Und erst recht nicht die riesige Schlange: „Ich habe den Horrorfilm gesehen, das ging nicht gut aus für den Bruder.“
Bao Nguyen, der Regisseur von „The Greatest Night in Pop“, hat ihn und andere Beteiligte für die Interviews ins alte A&M Studio geladen. Die Erinnerungen fließen dementsprechend ungehindert. Nguyens Film rekonstruiert akribisch die Ereignisse der Nacht, in der die größten Stars der Welt „We Are the World“ einsangen. Die logistische Leistung, die emotionale Reise, die zur Schau gestellte Kameradschaft und die unterschwellige Konkurrenz.
Man hatte den Aufnahmetermin im Anschluss an die American Music Awards gelegt, die von vielen Stars besucht und von Richie moderiert wurden. Andere, wie Bruce Springsteen, Dionne Warwick und Michael Jackson waren auf Tour und reisten eigens an. „Lass dein Ego an der Tür zurück“, hatte Quincy Jones auf einen Zettel am Eingang zum Studio geschrieben. Aber selbst die besten Absichten haben Grenzen. Wie der erste Tag im Kindergarten habe sich das angefühlt, sagt Richie.
Perkussionistin Sheila E. merkt bald, dass ihr nur deshalb ein Solopart versprochen wurde, weil man hoffte, sie könne ihren damaligen Freund Prince ins Studio locken. Cyndi Lauper will erst gar nicht kommen, weil ihrem Boyfriend der Song nicht gefällt, Country-Outlaw Waylon Jennings stampft aus dem Studio, als Stevie Wonder verlangt, man solle auch Zeilen in Swahili singen (woraufhin Wonder darüber informiert wird, dass man in Äthiopien kein Swahili spricht).
Erneut rettet Quincy Jones die Situation, dankt Harry Belafonte für sein Engagement, woraufhin sämtliche Stars (bis auf Bob Dylan!) den „Banana Boat Song“ anstimmten: „Day-O!“ Es sind solche Details, die den Film sehr viel unterhaltsamer wirken lassen, als die etwas triefige Hymne. Das Projekt an sich wird erwartungsgemäß nicht infrage gestellt. Lediglich Bruce Springsteen räumt ein, dass man den Song nicht aus ästhetische Perspektive betrachten sollte, sondern als ein Werkzeug, das gute Dienste geleistet hätte: Rund 160 Millionen in heutigen Dollar generierte die Single für humanitäre Hilfe.
Rockkritiker Greil Marcus verglich den Song mit einem Werbejingle von Pepsi, der Brausefirma, bei der Jackson und Richie damals Werbepartner waren. Das ist harsch, aber eine gewisse Herablassung und stereotypische Sicht darf man dem Projekt unterstellen. DJ Koze hat es vor Jahren auf den Punkt gebracht: „Liebes Afrika“, leitet der Hamburger Musiker seine „We Are the World“-Parodie ein, „wir als erste Welt haben in der Vergangenheit viel Scheiße gebaut. Und deswegen, als Wiedergutmachung, haben wir dir einen Song aufgenommen.“
Auch wenn es nicht die beste Nacht des Pop war, eine denkwürdige war es allemal. Am Ende der Sessions, es ist acht Uhr morgens, bleibt Diana Ross als letzte im Studio zurück und weint: „Ich will nicht, dass es vorbei ist.“
„The Greatest Night in Pop“ ist ab sofort auf Netflix zu sehen