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Neuer Comic-BandWarum „Charlie Hebdo“-Zeichner Luz Zuflucht in einem Kölner Museum sucht

Lesezeit 6 Minuten
30.09.2024, Köln: Der französische Comiczeichner Luz hat ein Buch über ein Gemälde von Otto Müller geschrieben. Das Bild hängt im Museum Ludwig.

Der französische Comiczeichner Luz steht im Museum Ludwig neben dem Bild „Zwei weibliche Halbakte“ von Otto Mueller

Der Zeichner Luz überlebte das Attentat auf „Charlie Hebdo“. Wir betrachten mit ihm im Museum Ludwig das Otto-Mueller-Bild, dem er seinen neuen Comic-Band gewidmet hat.

Es ist Montag, wir sitzen im leeren Museum Ludwig vor Otto Muellers Bild „Zwei weibliche Halbakte“, gemalt um 1919, Tempera auf Rupfen. Das Gemälde, erzählt Luz, habe eine unglaubliche Geschichte hinter sich und doch sei es nur ein Bild unter anderen, repräsentativ für seine Zeit. „Es ist ein Überlebender“, sagt Luz, „wir alle sind Überlebende.“ Luz heißt mit vollem Namen Rénald Luzier. Vor mehr als 30 Jahren war er als Zeichner zur Satirezeitung „Charlie Hebdo“ gestoßen. Im November 2011 hatte er für das Titelblatt von „Charlie“ eine Mohammed-Karikatur gezeichnet. „100 Peitschenhiebe, wenn Sie sich nicht totlachen!“, verkündete darauf ein lachender Prophet.

Am Tag der Veröffentlichung wurde ein Brandanschlag auf die Redaktionsräume verübt. Drei Jahre später ermordeten die Brüder Kouachi in diesen Räumen elf Menschen, die meisten von ihnen enge Freunde des Zeichners, auf ihrer Flucht erschossen sie noch einen Polizisten. Luz überlebte, aus dem denkbar banalsten Grund: Er hatte mit seiner Frau am Abend zuvor in seinen Geburtstag hineingefeiert und die morgendliche Redaktionssitzung verschlafen. Eine Woche später erschien die nächste Ausgabe von „Charlie Hebdo“, auf ihrer Titelseite hatte Luz erneut eine Mohammed-Figur gezeichnet, aus Trauer und Trotz. „Je suis Charlie“ steht auf dem Schild, das sie sich vor der Brust hält und über dem Bild des Propheten die Schlagzeile „Alles ist vergeben“.

Auch zehn Jahre nach dem „Charlie Hebdo“-Attentat lebt Luz noch unter Personenschutz

Fast zehn Jahre später lebt Luz noch immer an unbekannter Adresse und reist nur unter Personenschutz. Der wacht auch in der Expressionismus-Abteilung des Kölner Museums über ihn. Mit im Gepäck hat der Künstler einen Vordruck seiner neuen Graphic Novel „Deux Filles Nues“ in der das titelgebende Bild von Otto Mueller als Erzähler fungiert, will sagen, die Lesenden erleben die Handlung aus der Perspektive des Gemäldes, als blickten sie zwischen den Garnen des groben Malgrunds auf den Verlauf der Geschichte. „Plötzlich sind wir nicht mehr die Betrachter, sondern die Betrachteten“, sagt Luz. In der Zeit nach der Attacke sei er selbst viel angeschaut worden, „weil man die Überlebenden anguckt, weil sie zu Symbolen werden“. Mit dem Comicbuch wolle er das Publikum in seine Position versetzen, es sei seine Stellungnahme zu den vergangenen zehn Jahren.

Das Interesse des Zeichners für die deutschen Expressionisten rührt noch aus seinen ersten Tagen in der Redaktion von „Charlie Hebdo“ her. Er hatte sich wegen seiner Flugangst, die ihn daran hinderte, Aufträge zu übernehmen, in psychologische Behandlung begeben. Doch redete er mit seinem Analytiker lieber über Kunst und insbesondere über den Expressionismus, in dem er eine Verbindung zu seiner Arbeit beim Satiremagazin erkannte: „Expressionismus bedeutet, dass ich nicht versuche, die Schönheit der Welt zu zeichnen, sondern ihre Realität oder besser gesagt, die Art und Weise, wie ich mich mit ihr auseinandersetzte. Als Pressezeichner wollte ich auch nicht unbedingt ein Spiegelbild des Schönen oder der Gesellschaft erschaffen, sondern ein Spiegelbild des Seins. Ich musste gegen meine Gesellschaft arbeiten, um meine Existenz in ihr zu verstehen.“

Ich suchte nach einem Weg, wie ich erklären kann, was es bedeutet, ein Überlebender zu sein.
Luz

Seine Faszination für den Expressionismus sei zum bevorstehenden 10. Jahrestag des „Charlie Hebdo“-Anschlages wiedergekehrt, erzählt Luz, lange schon habe er über die berüchtigte Münchener „Entartete Kunst“-Ausstellung arbeiten wollen. „Ich suchte nach einem Weg, wie ich erklären kann, was es bedeutet, ein Überlebender zu sein. So kam ich auf die Idee, diese Erfahrung aus der Perspektive eines Gemäldes zu vermitteln, das auf seiner Reise durch das Jahrhundert mehrmals von der Zerstörung bedroht ist.“

Muellers weibliche Halbakte hat er auf einem Foto der Nazi-Ausstellung gesehen, es hing dort auf Kinderhöhe. In Frankreich sei Mueller nicht sehr bekannt, sagt Luz, „es wäre vielleicht einfacher gewesen, ein Bild von George Grosz oder Otto Dix zu nehmen. Aber ich wollte ein Gemälde zeigen, das aus politischen Gründen stigmatisiert wird, ohne selbst ein politisches Gemälde zu sein.“

In „Deux filles nues“ sehen wir den Maler malen, sehen seinen ärmlichen Alltag in Berlin, die Trennung von Maschka Mayerhofer, seiner Frau und Muse, den Umzug nach Breslau, sehen, wie Ismar Littmann das Bild für seine geliebte Moderne-Sammlung erwirbt, wie der jüdische Rechtsanwalt kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Suizid begeht, sehen wie das Bild von der Gestapo für die diffamierende Ausstellung beschlagnahmt wird, wie es noch im Krieg vom Kunsthändler Hildebrand Gurlitt an Josef Haubrich verkauft wird, wie es über dessen Stiftung in die Sammlung des Wallraf-Richartz-Museums und dann des Museums Ludwig übergeht. Sehen schließlich, wie Littmanns Tochter Ruth 65 Jahre nach dem Tod ihres Vaters erneut vor dem Otto-Mueller-Gemälde steht, das die Stadt Köln an sie restituiert hat – und wie sie dem Museum großzügig die Rückerwerbung der „Zwei Halbakte“ ermöglicht.

Durch den Rahmen des Bildes, erklärt Luz, können wir aber auch die Geschichte all der Menschen sehen, die vor uns vor dem Bild standen, „und natürlich sind wir selbst zukünftige Gespenster und andere Menschen werden nach uns hier stehen“. Der Band erzählt nicht zuletzt auch die große Geschichte von der Katastrophe des 20. Jahrhunderts, die Geschichte, deren Überlebende wir sind. „Oft sind wir dabei wie ein Bild, hängen als passive Zeugen an der Wand. Aber manchmal taucht man auch in die Geschichte ein. Dann müssen wir zurück auf die Straße und in den Kampf gehen, so wie vor ein paar Monaten in Frankreich, als die extreme Rechte kurz davor stand, die Macht zu übernehmen.“

Ich sah das Ende des Buches in Echtzeit vor mir, das war bewegend.
Luz

Da hatte Luz gerade seine Graphic Novel fertiggestellt, konnte endlich auch nach Köln reisen, um das Bild, das er nur von Reproduktionen kannte und von der 360-Grad-Ansicht des Ausstellungsraums auf der Website des Museums, zum ersten Mal vor Ort zu sehen. „Es wirkte größer, als ich es mir vorgestellt hatte, wie ein Stern. Eigentlich wollte ich ein Foto des Gemäldes am Ende des Buches zeigen, aber dann stand ich eine Dreiviertelstunde vor dem Bild und habe es gemalt.“ Die Mitarbeitenden des Ludwig, schwärmt der Zeichner, empfingen ihn mit offenen Armen, die einsame Arbeit des Comiczeichners wurde plötzlich zum Teamwork. Auf seinen Wunsch hin wurde eine öffentliche Führung organisiert, Luz porträtierte die Expertin und ihr Publikum: „Das war bewegend, weil ich das Ende des Buches in Echtzeit vor mir sah.“

Kunstmuseen seien für ihn Zufluchtsorte, hier, im Schutz der Bilder, fühle er sich sicher. „Die Kunst gehört nicht dem Künstler, sie gehört uns“, schließt Luz, „aber wir gehören auch zu diesem Gemälde.“