Mit Ihrem neuen Roman „Vielleicht hat das Leben Besseres vor“ sorgt Anne Gesthuysen für Bullerbü-Gefühle in schwierigen Zeiten.
Neuer Roman der Kölner AutorinAnne Gesthuysen: „Den Glauben an eine Lösung nicht verlieren“
Frau Gesthuysen, in Ihrem Roman geht es um eine Frau, die ihr ganzes Leben für ihre behinderte Tochter aufgibt. Das ist natürlich ein besonders krasser Fall. Aber zumindest ein bisschen von dieser Selbstaufgabe kennen wohl viele Eltern, traditionell vor allem Mütter - Sie auch?
Ich habe mich ausgetobt und ausprobiert, habe ohne große Verantwortung für andere gelebt und bin dann erst Mutter geworden. Vielleicht fällt es dann leichter, eine Zeit fürs Kind zurückzustecken, als wenn man sehr jung Mutter wird. Grundsätzlich, glaube ich, dass die Neigung zur Selbstaufgabe eher Mütter trifft als Väter – aber vielleicht ändert sich das ja in der nächsten Generation.
Wobei es in der jüngeren Generation ja auch Strömungen gibt, die wieder zurück zu alten Rollenbildern wollen.
Das ist ja etwas, was wir in allen Bereichen des Lebens gerade feststellen: Dass sich die Gesellschaft spaltet. Es gibt die Generation der jetzt dreißigjährigen Frauen, die sehr selbstverständlich sagen: Natürlich will ich arbeiten und natürlich will ich ein Kind haben und natürlich will ich auch noch die Zeit haben, meine Freunde zu sehen. Egal, was mein Mann beziehungsweise der Vater des Kindes macht – das steht nicht über dem, was ich mache. Und dann gibt es eben wieder den anderen Teil der Gesellschaft, der sich wirklich zurückdreht. Und da sind Frauen auch in ihrer Weiblichkeit und Körperlichkeit plötzlich wieder untergeordnet oder gar anstößig. Gewalt gegen Frauen nimmt zu, ein Drama.
Um die gesellschaftliche Spaltung geht es ja auch in Ihrem Roman, der auf dem Land am Niederrhein spielt. Da kommt es zu einem Streit über diskriminierende Sprache. Ein Thema, das extrem polarisiert. Ihr Buch ist da eher eine Ausnahme und nimmt eine vermittelnde Haltung ein – in Person der über 90jährigen Tante Ottilie.
Wenn Sie den Roman bei dem Thema als vermittelnd lesen, ist das das größte Kompliment, das Sie mir machen können. Ich trage diese Szene bei Lesungen vor und sage dem Publikum dann: Ich hoffe, dass Sie genauso mitgehen mit den verschiedenen Argumenten wie ich beim Schreiben, denn beide Seiten haben irgendwie Recht. Sprache entwickelt sich und diese Achtsamkeit im Umgang mit ihr ist total richtig. Aber, Zitat Ottilie Oymann: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht. Im Gegenteil – man reißt es nämlich kaputt. Und das ist das Entscheidende: Wenn so ein starker Druck gemacht wird, schlägt das Pendel wieder in die andere Richtung aus. Sozialer Druck erzeugt Widerstand und ist da eher kontraproduktiv.
Warum?
Viele Leute verstehen die eigene Sprache gar nicht mehr. Was ist ein I-Wort, ein Z-Wort, critical Whiteness usw. Sie sagen was Falsches, werden dafür an den Pranger gestellt und regen sich drüber auf. Nach dem Motto: Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, wie ich zu sprechen habe! Aktuelles Beispiel: die Aufregung um den „Ober-Indiander“ aus dem Sonderzug nach Pankow.
Ihre Romane spielen in der kleinen Gemeinde Alpen, wo sie selbst aufgewachsen sind. Bei aller gesellschaftlichen Spaltung scheint es dort noch ein starkes Gemeinschaftsgefühl zu geben.
Ja, so ein Dorf ist eine Gemeinschaft – mit allem, was dafür und dagegen spricht. Es hat so ein bisschen was von Bullerbü. Kinder, die dort aufwachsen, werden von allen Erwachsenen gekannt und gesehen – das ist ja gar nicht schlecht. Es hat aber auch Nachteile: In der Gerüchteküche herrscht Hochbetrieb – immer! Aber ich glaube, das findet man in allen Gemeinschaften, egal ob Dorf oder Büro. Dieses Gequatsche ist eine Art Selbstvergewisserung und -kontrolle, es gleicht Werte- und Verhaltenskodex ab und hält eine Gruppe dadurch auch zusammen. Wie Schäferhunde, die immer um ihre Herde herumrennen, um sie zusammen zu treiben.
Tatsächlich erinnert Ihr Roman daran, dass Fake News keine Erfindung des Internetzeitalters sind.
Es ist halt nur die Verbreitung größer. Und dadurch haben die Gerüchte mehr Wucht und mehr Masse. Und das Internet vergisst nichts. Es ist halt world wide. Andererseits, wer im Dorf wohnt, für den ist das Dorf im Prinzip ja auch die Welt. Darüber hinaus ist das Prinzip ähnlich: Was da im Dorf früher an Unsinn erzählt wurde... Und je häufiger es wiederholt wird, desto wahrer ist es - und irgendwann kommt man nicht mehr da raus.
Das behinderte Mädchen Raffaela schwebt in ihrem Roman in Lebensgefahr. Beim Lesen ist man mit den Dorfbewohnern dem vermeintlichen Verbrechen auf der Spur und verdächtigt dabei eine Figur nach der anderen.
Im Kern ist die Geschichte aber kein Krimi. Ich wollte die Verzweiflung einer Familie ausloten, bis an den Punkt, wo man ihnen alles zutraut. Und es ging es mir darum, dass das Dorf natürlich wieder die Gerüchteküche anheizt mit allen möglichen Unterstellungen.
Ganz schön düster für das Bullerbü-Gefühl...
So ist das Leben, denke ich. Es kann, wie im Falle Raffaelas mit einem Fingerschnipp eine dramatische Wende nehmen und alles, was man sich erträumt hat, ist plötzlich obsolet. Ich selbst habe beinahe dasselbe erlebt wie die Mutter im Buch: Mein Sohn ist aus einem überladenen Einkaufswagen auf den Asphalt geknallt. Wir haben großes Glück gehabt – die Familie im Roman nicht. Aber vielleicht funktioniert das mit dem Fingerschnipp auch andersherum? Wenn man denkt: Oh je, gleich rast der Karren in den Abgrund! Vielleicht gibt es kurz vorm Absturz doch noch irgendetwas oder –jemanden, der einen aufhält. Denn vielleicht hat das Leben – wie im Titel – ja tatsächlich etwas Besseres vor. Das spiele ich in der Geschichte durch.
Sie blenden gesellschaftliche Konflikte ja keinesfalls aus in Ihren Romanen. Würden Sie trotzdem sagen, dass Ihr fiktives Alpen auch ein literarischer Ort zum Wohlfühlen ist?
Ja und das darf glaube ich auch sein. Wenn ich in die Welt gucke: Da sind so viele Probleme und Konflikte, auf die man schaut und denkt: Es gibt keine Lösung. Oder die wird es zumindest für lange Zeit nicht geben und ich habe keine Ahnung, wer sie finden kann. Doch ich möchte schon noch das Gefühl vermitteln, dass man nicht den Glauben an eine Lösung verliert - zumindest beim Lesen. Und in dieser Hinsicht bleibt das fiktive Alpen mein Bullerbü.
„Vielleicht hat das Leben Besseres vor“ (Kiepenheuer & Witsch, 400 Seiten, 24 Euro) spielt in der der kleinen Gemeinde Alpen am Niederrhein, in der Anne Gesthuysen auch aufgewachsen ist. Raffaela, ein Mädchen, das seit einem Unfall geistig behindert ist, liegt im Koma. Sie wurde bewusstlos aufgefunden, niemand weiß, was passiert ist. Umso mehr brodelt die Gerüchteküche.
Anne Gesthuysen wurde 1969 am unteren Niederrhein geboren. Ab 2002 moderierte sie das „ARD-Morgenmagazin“. Diese Nachtschichten gab sie nach dem großen Erfolg ihres ersten Romans „Wir sind doch Schwestern“ Ende 2014 auf. Sie lebt mit ihrem Mann, Frank Plasberg, ihrem Sohn und dem Goldendoodle Freddy - den sie auch in ihren Büchern verewigt hat - in Köln.