In seinem neuen Roman „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“, der an seinem 75. Geburtstag in Deutschland erscheint, lässt Haruki Murakami die Konturen des menschlichen Denkens verschwimmen.
Neuer Roman von Haruki MurakamiJenseits der Mauern des gesunden Menschenverstandes
Wo hört die Wirklichkeit auf und wo fängt die Phantasie an? Was ist das wahre Ich und was nur sein Schatten? Haruki Murakami ist ein Meister darin, solche Fragen zu stellen. Und nicht zu beantworten, so dick seine Bücher am Ende auch sind. Wer auf eine Auflösung hofft, der hofft vergebens. Weil so etwas für Murakami nicht zählt, genauso wenig wie literarische Genres oder Strömungen
Ganz anders sieht das in den Literaturwissenschaften aus. Hier ordnet man Murakami gerne dem „magischen Realismus“ zu. In die gleiche Schublade also wie den kolumbianischen Literatur-Nobelpreisträger Gabriel García Márquez. Über den unterhält sich der Ich-Erzähler in Murakamis neuem Roman einmal mit einer Freundin. „Seine Geschichten mögen nach den Maßstäben der Kritik magischer Realismus sein, aber für García Márquez selbst waren sie ganz gewöhnlicher Realismus. In der Welt, in der er lebte, vermischten sich das Reale und das Irreale völlig selbstverständlich (...)“, sagt sie. Und das gilt natürlich auch für Murakami.
Murakami erzählt mit größter Selbstverständlichkeit vom Irrealen
Was vielleicht seinen literarischen Zaubertrick erklärt: Die seltsamsten Geschichten mit der größten Selbstverständlichkeit zu erzählen. Bei Murakami ist es keine Sensation, wenn ein Geist auftaucht. Oder wenn der Erzähler zwischen Welten und Zeiten wandert. Das passiert mit der gleichen Alltäglichkeit wie der Einkauf im Supermarkt oder das Bügeln der Wäsche.
Dieser Gleichmut - vielleicht auch Fatalismus – mischt sich mit einer leisen Melancholie über Verlorenes und Verpasstes. Und mit einem unerklärlichen Gefühl der Fremdheit des Ich-Erzählers, ganz egal ob in unserer oder einer anderen Welt.
Auch in seinem neuen Roman „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“, der an seinem 75. Geburtstag erscheint, gibt es diesen speziellen Murakami-Sound. Was kein Wunder ist, denn genau genommen ist es gar kein ganz neuer Roman. Sondern die Neuerzählung einer alten Geschichte. Fans werden Motive aus „Hard Boiled Wonderland und das Ende der Welt“ wiedererkennen, das Mitte der 1980er erschien. Genauer: den „Das Ende der Welt“ betitelten Erzählstrang, der in einer zeitlosen, monotonen Stadt spielt, in der die Menschen wie Uhrwerke funktionieren und ohne ihren Schatten leben.
Motive von „Hard Boiled Wonderland und das Ende der Welt“
In diese Stadt ist Haruki Murakami nun 40 Jahre später zurückgekehrt. Sie begleitet ihn wie einen Traum, den man immer wieder träumt. In seinem neuen Roman ist es die erste große Liebe des Ich-Erzählers, die die Stadt das erste Mal erwähnt: „Mein wahres Ich lebt in der Stadt mit der hohen Mauer“, sagt die 16-Jährige. „Was du siehst, ist nur eine Art Stellvertreterin. Ein wandernder Schatten.“ Die beiden reden viel über die Stadt, malen sie in allen Einzelheiten aus. Doch dann verschwindet das Mädchen plötzlich. Und hinterlässt eine ewige Leerstelle im Leben des Erzählers.
Bis er irgendwann selbst den Weg hinter die Mauern findet. Und dort auch tatsächlich dem Mädchen begegnet, das in dieser seltsamen Welt nicht altert. Ihn allerdings auch nicht kennt. Doch diesen Preis ist er bereit, zu bezahlen, um ihr nahe zu sein.
Jenseits des gesunden Menschenverstandes
Zwar bezieht sich der Roman auf „Hard Boiled Wonderland“ und hat seine Wurzeln sogar in einer noch viel früheren Erzählung, wie Murakami im Nachwort schreibt. Doch um „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ zu mögen, muss man nicht das Gesamtwerk Murakamis kennen. Eine Aufgeschlossenheit für Dinge jenseits des gesunden Menschenverstands reicht völlig.
„Aus Sicht des gesunden Menschenverstandes kann ich da keinen Zusammenhang erkennen“, sagt auch der namenlose Erzähler als er auf das spurlose Verschwinden eines Jungens angesprochen wird. Er ist inzwischen in seinen Vierzigern und Direktor einer Bibliothek. Dort verschlang der Junge regelmäßig Unmengen von Büchern. Und er war fasziniert von der „Stadt und ihrer ungewissen Mauer“. Bis er plötzlich verschwand – genau wie einst das Mädchen.
Das mit dem gesunden Menschenverstand ist zwar nicht direkt gelogen – doch jenseits dessen gibt es durchaus einen Zusammenhang. Denn in der anderen Welt, der Stadt hinter den Mauern, begegnen sich der Junge und der Bibliotheksdirektor schließlich wieder. Oder sind es nur ihre Schatten?
Der süße Duft einer trügerischen Scheinwelt
Ja, es ist verwirrend. Aber da geht es dem Leser nicht anders als dem eigentlich total durchschnittlichen Erzähler, der auch nicht immer alles versteht. Sein Vorgänger als Bibliotheks-Direktor ist der freundliche Herr Koyasu. Ein netter älterer Herr mit einem Hang zur exzentrischen Kleidung. Und ein Geist – aber das erfährt der Erzähler erst, nachdem die beiden sich schon eine ganze Weile kennen. Wenn sie sich treffen, zündet Herr Koyasu gerne ein Feuer im Ofen der Bibliothek an. Das duftet nach dem Holz der verfeuerten Apfelbäume: „Doch so angenehm er (der Duft) auch war, für mich enthielt er ein gefährliches Element, denn er lockte mich unmerklich in eine trügerische Scheinwelt. Er schuf eine Atmosphäre, die das menschliche Denken in eine verschwommene konturlose Welt hineinzog“. Besser kann man den unwiderstehlichen Sog dieses Romans nicht zusammenfassen.
Ein Bruder des verschwundenen Jungen ist Medizinstudent und in Psychiatrie bewandert: „Ich glaube, die Mauer, die die Stadt umgibt, ist das Bewusstsein, das Sie als Person ausmacht“, sagt er zum Erzähler. Eine Deutung, auf die man auch ohne Medizinstudium kommt. Aber um Murakami zu genießen hilft es, das ewige Denken und Deuten – oder eben den gesunden Menschenverstand – abzuschalten. Und sich ganz der Logik des Buchs zu überlassen. „Ich las nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen“, heißt es darin einmal. Das klingt kitschig, ist aber für diesen Roman trotzdem ein sehr guter Rat.
„Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ , Dumont, 640 Seiten, 34 Euro, aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe.