„Hackney Diamonds“ ist das erste richtige Rolling-Stones-Album seit 18 Jahren — und eine Riesenüberraschung. Unsere Kritik.
Neues Album „Hackney Diamonds“So aufmüpfig klingen die Rolling Stones mit 80
„Lass die Alten noch glauben, dass sie jung sind“, fleht Mick Jagger in „Sweet Sounds of Heaven“. Der anschwellende Gospelsong markiert den Höhepunkt von „Hackney Diamonds“, dem am Freitag erscheinenden neuen Album der Rolling Stones. Ein Gipfeltreffen: Stevie Wonder haucht dem Stück mit verminderten Klavier-Akkorden noch ein wenig mehr Seele ein, Lady Gaga tremoliert sich im Hintergrund langsam aber sicher in Richtung Lungenkollaps.
Ganz unweigerlich denkt man dann an Merry Claytons legendären Part in „Gimme Shelter“, die Soulsängerin erlitt nach diesen Studiostrapazen angeblich eine Fehlgeburt, überhaupt denkt man an einige der epischeren Rolling-Stones-Tracks, an „You Can't Alway Get What You Want“ vom selben Album, an „Moonlight Mile“ oder „Time Waits for No One“.
So ist das nun mal, schleppt man wie die Rolling Stones 60 Jahre abspielbarer Geschichte mit sich herum: Aber wenn nichts dem Vergleich mit früher entkommt, wie soll dann noch etwas Neues entstehen? Wie sollen die Alten glauben, dass sie jung sind? „Liegt meine Zukunft in der Vergangenheit?“, fragt Keith Richards in seinem Solosong „Tell Me Straight“, unmittelbar vor Micks großem Gaga-Gospel.
Dass die Band vor „Hackney Diamonds“ 18 Jahren lang kein Album mit neuen Songs mehr aufgenommen hat, verwundert nicht. Fans wie Kritiker hatten längst ihren Frieden damit gemacht, dass man kein nach 1981 erschienenes Album unbedingt gehört haben muss (am ehesten noch Richards' Soloplatte „Talk Is Cheap“). Eigentlich war die spielfreudige Blues-Cover-Sammlung „Blue & Lonesome“ von 2016 doch ein gelungener Schlussstein, so hatten sie 1962 angefangen, im Londoner Marquee Club, in aller rotzigen Bescheidenheit.
Das Cover von „Hackney Diamonds“ mag scheußlich sein, die Musik ist fantastisch
Die Erwartungen an „Hackney Diamonds“ waren dementsprechend niedrig, die Werbeveranstaltung mit Jimmy Fallon verkrampft, das Video zur okayen Single „Angry“ sexistisch, das Cover mit dem zersplitternden Kristallherzen so scheußlich wie eine Eurodance-Kompilation aus den 1990ern. Umso größer fällt die Überraschung aus: Dieses Nachzüglerkind der Stones-Discografie ist nicht nur durchweg unpeinlich ausgefallen, sondern derart fantastisch, dass man kaum glauben mag, wie jung diese Alten noch klingen können.
Der knapp 50 Jahre jüngere Produzent Andrew Watt mag daran seinen Anteil haben, er hat zuvor bereits Urgesteinen wie Ozzy Osbourne und Iggy Pop neue Wucht verliehen. Auf „Hackney Diamonds“ durfte er sogar an drei Titeln mitschreiben, die nun dynamisch ins Werk einführen. „Get Close“, der Beste davon, klingt, als hätten Jagger, Richards und Watt „Slave“, den locker-funkigen Bluesjam von der „Tattoo You“, zur Hitsingle festgezurrt: Elton John ersetzt Billy Preston am Klavier, Jagger singt so gut wie seit Jahrzehnten nicht mehr — das gilt fürs gesamte Album —, und die Gitarren von Richards und Ronnie Wood umspielen sich wie zwei Trunkenbolde, die Arm in Arm übers Trottoir schwanken.
Stück Nummer Vier, „Bite My Head Off“ führt dann direkt zu „Some Girls“ zurück, der Antwort der Stones auf die Herausforderungen des Punks. Aber wer spielt den spätpubertär übersteuerten Fuzzbass? Paul McCartney, 81 und in aufmüpfiger Form. Man kommt aus dem Staunen kaum heraus. Und gibt das Vergleichen auf.
Natürlich kann das countryeske „Dreamy Skies“ ebenso wenig an „Wild Horses“ heranreichen wie die discoiden Bassläufe von „Mess It Up“ an „Miss You“ —, auch wenn Jagger am Ende des Songs noch einmal ins Bee-Gees-Register wechselt und man hier (und im folgenden Song) ein letztes Mal das swingende Rat-ta-tat des 2021 gestorbenen Drummers Charlie Watts hören kann.
Na und? „Hackney Diamonds“ ist das bestmögliche Album, dass die Rolling Stones anno 2023 aufnehmen konnten. Nach dem kleinen Wunder von „Sweet Sounds of Heaven“ greift sich Jagger eine Mundharmonika und Richards eine uralte Gibson-Gitarre und sie spielen Muddy Waters' „Rollin' Stone“-Blues zusammen, das Stück, nachdem sich die tollste Rockband aller Zeiten einst benannt hat. Alt wie die Berge klingen sie. Und so agil wie der Seewolf, der im Lied durch die tiefe blaue See schwimmt.