Neues AlbumWie sich Billie Eilish ihre eigene Zukunft schafft
Los Angeles – Große Erwartungen sind eine Last, die vor allem jungen Menschen aufgebürdet wird. Nichts ist unfreier als die Jugend. Wie ein neugeborenes Fohlen stakst man durch ein Leben, das Ältere eingerichtet haben, die jedes kleine Straucheln als Teil eines vorgestanzten Bildungsromans verbuchen. Solche Erwartungen kann man unmöglich erfüllen. Weshalb es wohl das Klügste ist, sie zu unterlaufen.
Die Erwartungen, die derzeit an Billie Eilish gerichtet werden, könnten nicht größer sein. Daran ist sie nicht ganz unschuldig: Seit sie im Alter von 13 Jahren zusammen mit ihrem Bruder Finneas die Ballade „Ocean Eyes“ auf Soundcloud hochgeladen hat, steht sie unter Beobachtung der Unterhaltungsindustrie, fürsorglich belagert von einer stetig anwachsenden Armee von Fans.
Mit 17 Jahren veröffentlichte sie schließlich ihr Debütalbum und übertraf alle an sie gerichteten Erwartungen: „When We Fall Asleep, Where Do We Go?“ etablierte Eilish als wichtigste Stimme ihrer Generation. Die mädchenhafte Verträumtheit von „Ocean Eyes“ war einer unverblümten Albtraumschau aus dem gemeinsamen Kinderzimmer von Billie und Finneas gewichen: Aufwachsen als Geisterbahnfahrt.
Besser als Elvis
Robert Christgau, der bald 80-jährige Doyen der amerikanischen Rockkritik, schwärmte, dass kein Teenager jemals ein solch beeindruckendes Album aufgenommen habe, außer man zähle die „Sun-Sessions“ des jungen Elvis Presley dazu.
Bei den Grammy Awards 2020 gewann Billie Eilish, als erste Frau überhaupt, in den vier wichtigsten Preiskategorien. Wie soll man weitermachen, wenn man mit 17 schon alles erreicht hat?
„Happier Than Ever“, Eilish lang ersehntes zweites Album gibt die Antwort in 15 Songs und einem Zwischenspiel. Sie ist zunächst einmal ganz einfach: Eilish unterläuft geschickt alles, was allzu erwartbar gewesen wäre. Zunächst optisch: Bustiers statt ausgebeulten Trainingsanzügen, Marilyn-blond- statt Neongrün-gefärbte Haare, Beigetöne statt Blutspuren. Und auch der Sound ist denkbar weit von den magenwürgenden Bässen und nackenkribbelnden ASMR-Geräuschen (das Zahnspangen-Schmatzen!) auf „When We Fall Asleep“ entfernt.
Enttäuschung beim Ersthören
Beim ersten Hören enttäuscht „Happier Than Ever“ deshalb zwangsläufig. Es wirkt, als drückte sich die exzentrische Freundin, die sonst strahlender Mittelpunkt jeder Party war, einen Abend lang in der dunkelsten Ecke herum. Die Dinge, die ihr einst Vergnügen bereitet hätten, singt Eilish gleich im ersten, programmatisch betitelten Song „Getting Older“, wären jetzt nur noch reine Beschäftigungstherapie. Aus dem Kontext gerissen klingt sie wie die blasierteste 19-Jährige aller Zeiten.
Aber das täuscht. Kontext ist hier alles: Die schonungslose Art, in der sie Vor- und Nachteile des Erfolgs verhandelt, Sehnsüchte und Verletzungen bilanziert, den Luxus der eigenen Probleme reflektiert. Zwei Jahre vergehen, wenn man erst einmal die 30 überschritten hat, wie im Flug, aber für Eilish ist das eine halbe Ewigkeit und sie ist wirklich nicht nur älter, sondern auch reifer und weiser geworden: Der Reiz von „Happier Than Ever“ liegt in den Zwischentönen, in den Nuancen der Betonungen und in der (im Vergleich zum Debüt) subtilen Manipulation von Eilishs Stimme. Die ihr Bruder hier ganz in den Mittelpunkt stellt. Mit wenigen, wohlgesetzten Ausnahmen ist das Album so sparsam instrumentiert wie Joni Mitchells „Blue“. Deren Einfluss ist wohl am deutlichsten in der Quasi-Akustik-Ballade „Your Power“ nachzuhören: Schöner ist noch nie über Machtmissbrauch in Beziehungen gesungen worden.
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Statt sich, wie so viele, auf die Schutzheilige aller Singer-Songwriterinnen zu berufen, hat Billie Eilish in Interviews zum Album immer wieder auf Peggy Lee und Julie London (deren Album-Cover Eilishs schulterfreies Tränen-Porträt zitiert) verwiesen; mondäne Nachtclub-Sängerinnen der 1940er und 50er Jahre, die aufreizende Intimität mit professioneller Gelassenheit verbanden.
Das ist kein leeres Gerede: Ein Stück wie „Halley’s Comet“ reiht sich nahtlos in den Kanon jener „Torch Songs“ ein, in dem der Sänger oder die Sängerin einen unerreichbaren oder verlorenen Gegenüber anschmachtet – und das, ohne in irgendwelche Retrofallen zu stolpern: Ein Klassiker aus dem Hier und Jetzt.
Nervöser Sexdrive
Finneas’ hausgemachte Produktionsmethoden sind nicht weniger abenteuerlich geworden, nur weniger aufdringlich: Exemplarisch nachzuhören im nervös technoid tickenden Sexdrive von „Oxytocin“ auf den mit „Goldwing“ ein Engels-Chor aus Eilishs vervielfältigter Stimme folgt, die eine Strophe von Gustav Holsts Hymnen nach der hinduistischen Rigveda interpretiert. Und das von den Geschwistern, die noch vor zwei Jahren mit Juvenilia wie „Wish You Were Gay“ provozierten.
Gegen Ende bekommt man mit dem elektronisch entfremdeten „NDA“ und dem „Bad Guy“-artigen „Therefore I Am“ sogar noch einmal kurz die alte Eilish zurück, bevor sie im Titelstück zu neuen Ufern aufbricht: „Happier Than Ever“ beginnt als Schrammel-Ballade, weitet sich dann aber nach und nach zur völlig übersteuerten Rockoper aus, in der Zeile „just fuckin’ leave me alone“ gipfelnd.
„Ich bin in meine Zukunft verliebt“, singt Billie Eilish an anderer Stelle. Nach diesem Befreiungsschlag steht ihr jede Zukunft offen. Sie muss nur noch ihren eigenen Erwartungen genügen.