Die Kölner Bestseller-Autorin Melanie Raabe schreibt in ihrem neuen Roman „Der längste Schlaf“ gegen Krimi-Klischees an.
Neues Buch von Melanie RaabeEin freundlicher Spuk gegen die Krimi-Klischees
Wahrscheinlich haben wir zu viele Krimis gelesen, zu oft „Tatort“ gesehen, True-Crime-Podcasts gehört. Oder alles zusammen. Anders ist es nicht zu erklären, dass wir die Muster solcher Erzählungen derart verinnerlicht haben. Eine Frau nachts alleine in einem Haus am Waldrand, in dem unerklärliche Dinge vorgehen? Das kann ja nur gefesselt und geknebelt im Keller enden. Zwei verschwundene Kinder – da hat doch sicher ein fieser Triebtäter die Hände im Spiel.
Melanie Raabe schreibt gegen solche Klischees an. Weil sie es mag, mit Erwartungshaltungen zu spielen. Und als Autorin immer auf der Suche ist nach einem überraschenden Blickwinkel: „Mir macht es Freude, wenn ich ein Buch lese oder einen Film sehe und nicht denke: Ah, ich weiß schon, wie es weitergeht – und dann geht es auch tatsächlich so weiter.“
Sie gibt ihren Büchern aber auch deswegen gerne eine ganz andere Wendung, weil sie sich über Szenen ärgert, die so oft wiederholt worden sind, dass sie sich hartnäckig in unserem kulturellen Bewusstsein festgesetzt haben. „Bestimmte Dinge will ich auch einfach nicht mehr lesen oder sehen. Ich will nicht mehr in allen Einzelheiten erzählt bekommen, wie eine Frau von einem Psychopathen in seinem Keller gefangen gehalten wird.“
Spannung, Geheimnis, sogar Grusel – das geht auch anders. Das hat Melanie Raabe schon als Thriller-Autorin bewiesen. Aber seit sie sich mit ihrem letzten Roman von diesem Label auf dem Buchcover befreit hat, kann sie noch viel freier damit spielen. „Ich war schon als Kind von allem fasziniert, was unheimlich war. Ich mochte keinen Horror, aber diese klassischen Schauerromane wie Dracula oder Frankenstein.“ Ohne zu viel über „Der längste Schlaf“ zu verraten: Hier spukt es gewaltig. Aber eben ganz anders als wir es gewohnt sind. „Ich habe immer gedacht, es wäre doch total cool, mal etwas zu schreiben, wo man glaubt, dass es spukt - aber es ist vielleicht sogar ein freundlicher Spuk. Oder es löst sich eben ganz anders auf.“
Dabei beginnt das Buch ganz klassisch: Die Londoner Wissenschaftlerin Mara Lux erbt ein geheimnisvolles Herrenhaus in einem verschlafenen Dorf am Waldrand in Deutschland - ihrer alten Heimat. Und sie hat nicht die leiseste Ahnung, warum. Hier sind übrigens auch die beiden Kinder verschwunden und nein – es war kein fieser Triebtäter. Aber dafür gehen im Herrenhaus die seltsamsten Dinge vor sich. Und die meisten Dorfbewohner wirken auch nicht gerade vertrauenerweckend.
Das würde ja eigentlich schon reichen für eine richtig schön schaurige Geschichte. Aber Melanie Raabe öffnet noch eine andere Ebene, indem sie ihrer Hauptfigur ein ganz besonderes Talent schenkt: Sie sieht die Zukunft voraus – in ihren Träumen. In einer Liebesschnulze wäre das vermutlich die Traumhochzeit mit dem Reederei-Erben. In Mara Lux’ Träumen sind es leider eher Tote.
„Ich interessiere mich sehr für Zwischenwelten und Graustufen“ sagt Melanie Raabe - ein verbindendes Element zwischen dem neuen und ihrem letzten Buch, das sie zum ersten Mal im Stil des magischen Realismus erzählt hat. „Und das habe ich jetzt noch ein bisschen ausgebaut - ich hatte das Gefühl, ein Buch über Schlaf und Träume ist dafür der perfekte Spielplatz.“
Das Thema Schlaf hat sie schon immer fasziniert: „Ich finde das eigentlich total schräg, dass wir so kritisch, modern, wissenschaftlich sind. Und dann legen wir uns abends hin, sind komplett weg, halluzinieren so rum - und alle finden das total normal.“
Diesen Zwiespalt des modernen Menschen verkörpert Mara Lux. Als Schlaf-Forscherin weiß sie alles darüber, was nachts mit uns passiert. Und trotzdem versteht sie nichts von dem, was in ihren eigenen verstörenden Träumen passiert.
Eigentlich wollte Melanie Raabe ein Sachbuch über Schüchternheit schreiben. Sie hat es auch geschrieben, sogar zweimal in unterschiedlichen Fassungen. „Ich habe deutlich über ein Jahr daran sehr intensiv gesessen. Aber es war einfach nicht gut genug“, sagt sie. Was auch viel über ihren hohen Anspruch an sich selbst erzählt. „Deswegen war ‚Der längste Schlaf‘ für mich auch sehr, sehr wichtig, weil ich dann natürlich dachte: Oh Gott, ich kann nicht mehr schreiben, ich habe es verlernt.“ Hat sie natürlich nicht. „Ich wusste, ich will was über Schlaf machen und dann war es, als wäre ich aus einer Kanone geschossen worden. Ich habe mich dann sofort drangesetzt und kam sofort in den Flow.“
Diese Schreib-Freude merkt man dem Roman an, der sofort einen unwiderstehlichen Sog entwickelt. Und eine unbeabsichtigte Aktualität, wenn man an die Wahlerfolge der AfD vor allem im ländlichen Raum denkt. Denn „Der längste Schlaf“ erzählt auch von Vorurteilen gegen Dorfbewohner, die sich als komplett unbegründet erweisen. Und von „Rucksackorten“, an denen man sein eigenes Anders-Sein mit sich herumschleppt – was man erst merkt, wenn die Last plötzlich von einem genommen wird.
Melanie Raabe stammt aus Thüringen, zog aber nach der Wende – da war sie acht Jahre alt – nach NRW. „Ich komme aus einem Dorf und habe lange in der Kleinstadt gelebt. Und ich finde solche Mikrokosmen interessant. Das Dorf im Roman hat definitiv etwas Bedrohliches. Aber es gibt dort eben auch ganz viele tolle Leute.“ Sie versucht, nicht die vereinfachte Rechnung ‚Osten gleich rechts‘ aufzumachen. „Das wäre total bitter für die 70 Prozent, die überhaupt nicht so sind und da vielleicht auch bewusst nicht weggehen. Und für die es etwas ganz anderes bedeutet, wenn sie auf eine Demo gegen rechts gehen.“
Melanie Raabe hat für sich Orte gefunden, an dem sie ihren gefühlten Rucksack ablegen kann: New York - aber auch Köln. Ihre private Theorie: „Für jemanden, der in irgendeiner Form anders ist oder an anderen Orten als anders wahrgenommen wird, kann man keinen besseren Ort in Deutschland finden als Köln.“
Melanie Raabe stellt „Der längste Schlaf“ (btb, 352 Seiten, 24 Euro) am Dienstag, 8. Oktober, um 21 Uhr im Rahmen der lit.Cologne Spezial im WDR-Funkhaus am Wallrafplatz 5 vor. Tickets kosten 24/20 Euro im Vorverkauf, 30/26 an der Abendkasse.