AboAbonnieren

Neues Buch von Shulamit VolkovDie prekäre jüdische Emanzipation in Deutschland

Lesezeit 3 Minuten

Die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin     

Köln – Die Revolution von 1848/49 gilt, obgleich sie bekanntlich scheiterte, immer noch weithin als demokratische Sternstunde der deutschen Geschichte. Dieses festgefügte Narrativ bekommt freilich Risse, schaut man zumal auf die Anfangsphase: Die war durch zahlreiche einigermaßen spontane Bauernaufstände gekennzeichnet, die sich gegen Steuerbeamte, aber auch gegen wohlhabendere Juden richtete. Die teils pogromartigen Ausschreitungen griffen vom Elsass auf den deutschen Südwesten über, um sich dann bis nach Westfalen, Bayern und Oberschlesien auszudehnen. Für die Juden stand an der Eingangspforte des demokratischen Zeitalters also ein Rückfall in ein überwunden geglaubtes Mittelalter.

Die israelische Sozialhistorikerin Shulamit Volkov – die väterlicherseits familiäre Wurzeln in Deutschland hat – schenkt in ihrem neuen Buch „Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ diesen schmerzhaft-bedrückenden Widersprüchen, diesen Ambivalenzen und Dissonanzen des Fortschritts besondere Aufmerksamkeit. Bereits die paradoxale Formulierung vieler Kapitelüberschriften verweist darauf, dass die Dinge nicht so leicht auf einen Begriff zu bringen sind: „Aufklärung ohne Toleranz“, „Die nur halb geöffnete Gesellschaft“, „Pogrome und Revolutionen“, Im Krieg vereint und getrennt“, „Hoffnungen – erfüllt und zerstört“.

Das könnte Sie auch interessieren:

Die unbestrittene jüdische Emanzipation in Deutschland im besagten Zeitraum, die sich in Schüben ereignete bis hin zur völligen staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden beim Übergang in die erste deutsche Demokratie 1918/19 – sie rief immer auch Gegenkräfte auf den Plan, die bei jedem Schritt nach vorne stärker und schließlich übermächtig wurden.

Wer Moderne mit Fortschritt zu identifizieren geneigt ist, wird bei Volkov nachdrücklich eines Besseren belehrt: Der aggressive Rassenantisemitismus, der sich im zweiten Kaiserreich formierte, war ein sehr „modernes“ Phänomen, das an alte Traditionen der Judenfeindschaft anknüpfte, diese aber mit Bestandteilen auf der Höhe der Zeit aufrüstete.

„Bürgerliche Verbesserung der Juden“?

Volkov, lange schon ausgewiesen als Expertin in Sachen deutsch-jüdische Geschichte und unter anderem hervorgetreten durch eine Biografie über Walter Rathenau, erschließt diesmal keine neuen Quellen. Vieles ist bekannt – etwa aus den einschlägigen älteren Veröffentlichungen von Jacob Katz oder aus Peter Longerichs im vergangenen Jahr erschienener großangelegter Darstellung „Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte“. Bedenkenswert aber sind allemal ihre Gewichtungen und Wertungen – auch dort, wo sie vielen hiesigen Lesern keine Freude machen dürften.

Ein Beispiel: Gemeinhin gilt Christian Wilhelm Dohms Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ von 1781 als Leuchtturm aufklärerisch-judenfreundlicher Toleranz. Indes verband sich – der jüdische Aufklärungsphilosoph Moses Mendelssohn empfand das seinerzeit sehr deutlich – Dohms „bürgerliche Verbesserung“ mit dem Ansinnen, die Juden müssten ihre rückständigen Religionspraktiken und Lebensweisen aufgeben.

Drastisch gesagt: Juden konnten dann auf Akzeptanz rechnen, wenn sie sich entschlossen, keine mehr zu sein. Hier ist eine Denkfigur aus Karl Marx berüchtigter Schrift „Zur Judenfrage“ (1843) vorweggenommen, die man – sie taucht übrigens im 19. Jahrhundert beileibe nicht nur bei diesem philosophischen Atheisten auf – als antisemitisch bezeichnen müsste, wäre der Autor nicht seinerseits jüdischer Herkunft.

Aus der Sicht der Betroffenen

Den Anspruch, deutsche Geschichte aus jüdischer Sicht darzustellen, löst Volkov nur teilweise ein: Gewiss, die Causa Mendelssohn gibt der Verfasserin Gelegenheit, die Aufklärung eben aus Sicht der „Betroffenen“ zu bilanzieren. Nämliches gilt für jüdische Delegierte auf dem Wiener Kongress, für die Familiengeschichte der Liebermanns und Rathenaus in der Kaiserzeit, für die Biografie deutscher Jüdinnen wie Bertha Pappenheim, Käthe Frankenthal und Hannah Arendt, für das Wirken von Fritz Bauer und Ignatz Bubis in der Bundesrepublik.

Die einschlägigen Passagen aber sind – begrüßenswerte – Inseln einer in der Perspektivenwahl prinzipiell dann doch ziemlich „objektiven“ Erzählung der deutsch-jüdischen Geschichte. Das schädigt nicht die Substanz des Buches, das halt nur etwas weniger originell ist, als der Klappentext es ankündigt.

Shulamit Volkov: „Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“, C.H. Beck, 336 Seiten, 28 Euro