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Nora Tschirner im Interview„Unglücklich im Optimierungs-Fasching“

Lesezeit 7 Minuten
Nora Tschirner Header dpa

Schauspielerin Nora Tschirner spricht im Interview über Kalorienzählen, Druck in der Filmbranche und ihre neuste Produktion „Embrace“.

Frau Tschirner, wann standen Sie zuletzt auf der Waage?

Vor ungefähr fünf Jahren.

Ihre Lieblings-Kalorienbombe?

Ich denke nicht in Kalorien, keine Ahnung.

Klingt so, als hätten Sie ein gutes Verhältnis zu ihrem Körper und Gewicht. Dennoch haben Sie den Dokumentarfilm „Embrace“ produziert, der am Donnerstag in Hunderten deutschen Kinos gezeigt wird. Darin geht es um Magermodels in der Werbung, um einseitige Schönheitsideale und darum, dass viele Frauen mit ihrem Körper extrem unzufrieden sind. Warum hat Sie das Thema so bewegt?

Ich beobachte seit mehreren Jahren in meinem Freundes- und Bekanntenkreis, dass viele tolle Frauen extrem mit ihrem Körper hadern – und dass, obwohl sie der Welt viel zu geben haben, beliebt sind und von ihren Partnern geliebt werden. Die Themen Altern und Unglücklichsein über den eigenen Körper nehmen immer mehr Zeit in Gesprächen ein. Bei Müttern ist mir aufgefallen, dass viele nach der Geburt wahnsinnig fixiert darauf waren, ihren Körper in Rekordzeit wieder straff zu kriegen. Ich fand es gruselig, das auf diesem Thema so ein Gewicht lag – im wahrsten Sinne des Wortes. Als ich dann über die sozialen Netzwerke von der Australierin Taryn Brumfitt und ihrem Filmprojekt erfahren habe, wollte ich das gerne unterstützen und bin eingestiegen.

Brumfitt, die Hauptfigur und Regisseurin des Films, war nach der Geburt ihrer drei Kinder unglücklich mit ihrer Figur.

Genau. Sie hat dann exzessiv trainiert, aber festgestellt, dass sie das ständige Kalorienzählen und die neue Figur nicht zu einem glücklicheren Menschen machen und fing stattdessen an ihr Denken zu verändern. Dann hat sei ein Vorher-Nachher-Foto auf ihrer Facebook-Seite gepostet, das um die Welt ging. Auf dem Vorher-Bild mit durchtrainiertem Körper wirkt sie viel unglücklicher als auf dem Bild, das sie mit ein bisschen mehr Speck zeigt – das genaue Gegenteil der üblichen Vorher-Nachher-Bilder in Diät-Werbungen also. Nachdem ihr ganz viele Frauen weltweit für ihre Aktion gedankt haben und von ihren Problemen erzählt haben, hat sie sich dann dazu entschlossen, einen Film über das Thema zu drehen. Auch, weil sie nicht wollte, dass ihre kleine Tochter später mal ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper bekommt.

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Taryn Brumfitt in  „Embrace“  

Brumfitt spricht im Film mit der Chefredakteurin einer Modezeitschrift, die Modestrecken mit normalgewichtigen Frauen eingeführt hat – gegen enormen Protest der Modelabels. Sind Frauen eigentlich selbst schuld, wenn sie die vielen Zeitschriften mit stark retuschierten Frauen und dürren Models kaufen?

Über Schuld zu diskutieren, führt selten zu etwas. Aber wir haben die Verantwortung und eine Wahl. Übrigens machen wir so einen Quatsch ja nicht mit, weil wir dumm, faul und bescheuert sind, sondern meist weil wir in ein System reingeboren werden, das wir erst mal lernen müssen zu hinterfragen. Bei mir hat es eine Zeitlang gedauert, bis ich gemerkt habe, dass mir Modezeitschriften nicht gut tun, weil ich davon einen an die Waffel kriege. Aber man kann sich davon befreien. Und für sich selbst dosieren. Ganz individuell. Ich sehe übrigens auch, dass das Thema ganz stark bei den Männern angekommen ist. Von den Kindern ganz zu schweigen. Eine Freundin hat einen neunjährigen Sohn, der in seinem Alter schon ein tierisches Problem damit hat, wie er aussieht.

Klar, es gibt auch viele unrealistische Männerbilder in der Werbung.

Auf jeden Fall. Und es beginnt schon in der Schule, wo nicht Einzigartigkeit gelehrt wird. Sondern man soll genormt und in allem megagut sein, die eierlegende Wollmilchsau werden. Da kommt man ganz automatisch in einen Optimierungs-Fasching rein. So ein Körper ist da natürlich ein super Ding, an dem man sich abarbeiten kann. Viel zu viele Menschen denken, dass mehr besser ist als genug. Und streben unabhängig davon, ob ihr Lebenspartner sie attraktiv findet, nach einer Optimierung. Aber ich muss doch nicht für Millionen Menschen der schönste Mensch sein, wenn ich einen Partner und ein Umfeld habe, das mich liebt.

Schauspielerin Nora Tschirner über Kritik, Fitnessstudio im Gehirn und Kardashian

Nora Tschirner Beifoto dpa

Schauspielerin Nora Tschirner

In der Filmbranche sollen Sie Millionen begeistern – und die Branche gilt als gnadenlos. Hat man Ihnen als Schauspielerin schon mal gesagt, dass Sie zu dick sind?

In Deutschland nicht. In Amerika ist der Druck wesentlich höher. Ein amerikanischer Regisseur hat mir vor einigen Jahren gesagt, ich müsste für seinen Film aber schon noch trainieren. Da habe ich gemerkt: Ich bin erleichtert in einem Land zu leben, indem man so etwas noch nicht für allzu wichtig hält.

Haben Sie denn trainiert?

Ehrlich gesagt hatte ich schon vor dieser Ansage mit einem Personal Trainer trainiert, weil ich wusste, dass es in dem Film viele Nacktszenen gibt und ich mich wohler fühlen wollte. Das Training wurde für mich damals aber zu einer totalen Obsession. Ich hatte das Gefühl, ich werde bescheuert davon. Heute würde ich .nicht mehr trainieren, wenn es nur aus narzisstischer Motivation geschieht.

Weil Sie heute entspannter mit Ihrem Körper sind?

Genau. Mein Aussehen, mein Gewicht, das war phasenweise , wenn auch nur im Hinterkopf, schon ein Thema für mich. Mittlerweile habe ich mich da aber freigeschwommen und mir Vorbilder gesucht, die gut und freudvoll und lässig gealtert sind. Ich finde auch, dass wir echt was Besseres zu tun haben, als uns über so einen Quatsch Gedanken zu machen. Wie wollen wir denn gesellschaftlich und politisch tiefgreifend weiterkommen, wenn wir alle mit dem Kopf im Spiegel festgeklemmt sind? Da liegt zu viel Denkkraft, Kreativität und Problemlösungspotenzial schlichtweg brach.

Wie haben Sie es geschafft, so entspannt zu werden?

Indem ich mir in meinem Gehirn ein kleines Fitnessstudio eingerichtet habe und seit vielen Jahren täglich ganz viele Mini-Trim-Dich-Pfade begehe. Ich beobachte mich und wenn ich drohe, gemein über mich selbst zu denken, sage ich mir: Obacht, jetzt bitte hier einen positiven Liegestütz. (lacht)

Brumfitt hat für ihre Fotos damals enorm viel Zuspruch bekommen, aber auch massive Kritik: Sie sei halt einfach dick und faul und solle sich im Fitness-Studio anmelden, haben vor allem Männer geschrieben. Trauen sich Frauen auch wegen solcher Angriffe nicht, sich mehr gegen unrealistische Frauenbilder zu wehren?

Zuerst mal, diese Kommentare kommen viel öfter auch von Frauen, als man vielleicht erstmal vermuten würde. Aber trotzdem. Ja, man braucht Mut für so etwas. Dabei ist ja klar, dass die, die im Internet am lautesten schreien, schrecklich frustrierte Menschen sind.

Haben Sie schon „gute Ratschläge“ in Bezug auf Ihr Aussehen bekommen?

Nach dem Film „Keinohrhasen“ war meine Lieblingskombination an Ratschlägen: Wir verstehen nicht, dass du es nötig hattest, dich in dem Film ausziehen und, ehrlich gesagt, hättest du es auch lieber gelassen. (lacht)

Brauchen wir mehr dicke Menschen in Kinofilmen, die nicht immer nur die lustigen Wuchtbrummen spielen?

Wir brauchen insgesamt viel mehr Diversität und unterschiedliche Bilder von Körpern und Menschen um uns herum. Im Kino und überall.

Es hat für Prominente auch Nachteile, wenn sie zugeben, dass ihre Körper nicht perfekt sind. Kim Kardashian hat bei ihrem Twitter-Profil gerade 100 000 Fans verloren, weil sie ihr berühmtes Hinterteil unretuschiert gezeigt hat – mit Cellulite. Kann man diesem Teufelskreis, perfekt sein zu müssen, entkommen, ohne seine Karriere zu riskieren?

Nicht per se. Kim Kardashian hat einfach nur aufs falsche Pferd gesetzt. Wenn du immer nur gefälschte Perfektion anbietest und das irgendwann auffliegt, sagen die Leute halt: Nö, wir wollten den Po ohne Dellen. Aber da hat sie sich natürlich ein bisschen selbst ein Bein gestellt. Sie ist damals mit solch einem Knall auf der It-Girl-Bildfläche erschienen und hat schnell einen immensen Einfluss auf ihre Fans weltweit gehabt. Sie hätte mit ziemlicher Sicherheit 1000 000 zusätzliche Fans gehabt, wenn sie zeitnah begonnen hätte die Dellen in ihrem Po selbstbewusst mit zu verkaufen. Aber dafür fehlte ihr eben offenbar der Mut. Alternativ hätte sie sich auch von Anfang an sagen können: Ich brauche keine acht Milliarden Fans auf Twitter. Vielleicht reichen 7, ha. Aber wenn man den Hals nicht voll kriegt und versucht, vorauseilend wirklich alle zu bespaßen, birgt das eben genau das Risiko, irgendwann zu enttäuschen.

Der Film „Embrace“ ist ein Appell für mehr Solidarität. Sind Frauen zu wenig solidarisch?

Wir als Menschen sind das. Die Welt ist für mich nicht unterteilt in Frauen und Männer, sondern in Menschen, die sich gegenseitig klein halten oder eben bestärken. Es ist ja schon ein Unterschied, ob man einen Mensch sieht und das Wort „Arschloch“ benutzt oder eher die gescheiterte Existenz dahinter bedauert. Also mehr Solidarität, gerne. Auch gerne unter Frauen.