Olivia Rodrigo in KölnStunden in der Sonne braten für eine Stunde Teenage-Glück
Köln – Am Tor des Carlswerks werden die Fans mit Eddingstiften nummeriert. Die Schlange vor dem Palladium zieht sich die Schanzenstraße entlang bis hierhin. Ist in Wahrheit aber noch viel länger. Die bezifferten Unterarme, die ja erst einmal äußerst ungute Assoziationen wecken, zeugen von Mitgefühl: Sie erlauben es den Anstehenden – es sind zu 80 Prozent junge Mädchen – sich aus der Schlange und damit aus der prallen Sonne zu entfernen, Schatten und Getränke zu suchen, um sich später wieder an ihrer ursprünglichen Position einzureihen. „Warum steht ihr hier? Ein Konzert?“ Eine neugierige Autofahrerin hat kurz angehalten, das Fenster runtergekurbelt. „Olivia Rodrigo“, schallt es ihr aus einem Dutzend Mündern entgegen.
Die so Ausgerufene ist kaum älter als ihre Fans, kann aber bereits eine beinahe beispiellose Karriere vorweisen: Im Alter von 13 Jahren wurde sie für die Disney-Sitcom „Bizaardvark“ gecastet, mit 16 spielte sie die weibliche Hauptrolle in der bizarr betitelten Serie „High School Musical: The Musical: The Series“. Mit 17 brach ihr der männliche Hauptdarsteller, mit dem sie auch privat verbandelt war, das Herz. Mit 18 veröffentlichte Rodrigo ihr Debütalbum „Sour“, in dessen selbstverfassten Liedern sie sämtliche Trauerphasen nach dem Ende ihrer ersten Liebe durchlebte.
„Sour“ war eines der meistverkauften Alben des Jahres 2021, vier seiner Singles landeten in den US-Top-Ten, zwei davon, die Powerballade „Driver’s License“ und der Pop-Punk-Song „Good 4 U“, schafften es bis an die Spitze der Charts. „Time“ ernannte sie zur Entertainerin des Jahres, das „Billboard“-Magazin zur „Frau des Jahres“. Jetzt, mit 19, dreht sie ihre Ehrenrunde durch die Konzertsäle der Welt.
Warum nicht in der Arena auftreten?
Wobei sie erstaunlich konservativ vorgeht. Rodrigo könnte längst Arenen füllen, das Palladium war in wenigen Sekunden ausverkauft, aber sie wolle, sagte sie der „Los Angeles Times“, Schritt für Schritt vorgehen. Dem kann man nur applaudieren. Allerdings nicht in dem Moment, in dem einen, obwohl vier Stunden vor Konzertbeginn erschienen, freundliche Ordner die Nummer „1318“ auf den Unterarm kritzeln. Später defiliert man dann an Zelten und Bananen-Notrationen vorbei und muss neidlos die offensichtlich noch viel größere Leidensbereitschaft anderer anerkennen.
Und dann ist man endlich drin. Im Palladium war, Temperatur und Luftfeuchtigkeit nach zu urteilen, gerade der nächste Aufguss fällig. Ein großer Teil des Publikums trägt Tops im Lavendelton, die Farbe des „Sour“-Plattencovers zitierend. Zuerst entzückt die südafrikanische Sängerin Baby Queen mit Zeilen wie „Ich denke an dich, du denkst an Sex“ die Masse und vor allem mit ihrem Hit „Want Me“, der ist nämlich die Titelmelodie der britischen Netflix-Serie „Heartstopper“. Die handelt von zwei Schülern, die sich auf einer Jungenschule ineinander verlieben und die Schnittmenge von Rodrigo-Fans und solchen der LGBTQ-Serie scheint immens hoch.
Jede Zeile wird mitgesungen
Dann erklingt endlich der Heavy-Metal-Riff von „Brutal“, dem Eröffnungsstück vom „Sour“-Album, erklingt und stoppt gleich wieder, noch ein wenig mit der riesigen Erwartungshaltung spielend, die sich hier über Stunden angestaut hat. Als dann endlich der Vorhang fällt gehen 4000 Handys in die Höhe und man hat seine liebe Mühe, Olivia Rodrigo auf der Bühne zu finden. Und zu hören: Denn es wird jede Zeile, aber wirklich jede, lauthals mitgesungen. Pink-Floyd-Hörer, oder ähnlich in sich gekehrte Konzertgänger, würden wohl glauben, in einer absurden Massenkaraoke-Veranstaltung gelandet zu sein. Das verraten zumindest die Blicke einiger begleitender Eltern, die sich in Richtung Bar verzogen haben.
Aber eines von Rodrigos erstaunlich vielzähligen Talenten besteht eben darin, Verse zu schmieden, mit denen Millionen Teenager ihre Instagram-Posts untertiteln möchten: „I’m so sick of 17. Where’s my fuckin‘ teenage dream?“, brüllt sie etwa in „Brutal“ und alle pandemiegeschlagenen Heranwachsenden pflichten eifrig bei. Auch schön: „Die Witze, die du ihr erzählst, stammen von mir“ oder „Du machst das toll da draußen ohne mich, Baby, wie ein verdammter Soziopath“.
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Kein Wunder, dass sich junge Mädchen beim nächsten Boyfriend-Ärger fragen „Was würde Olivia tun?“, „Sour“ wirkt da besser als jedes Lebenshilfe-Buch. Übrigens ist auch ihre – exzellente –Band rein weiblich besetzt. Und als die Musikerinnen zur Achtsamkeitsballade „Hope Ur OK“ kurz hinter einem Vorhang verschwinden, und sich Rodrigo allein auf der akustischen Gitarre begleitet, kann man endlich auch ihre instrumentalen Fähigkeiten begutachten.
Kurz zuvor hatte sie Avril Lavignes „Complicated“ aus dem Jahr 2002 gecovert. Auch die war damals das Idol ihrer Generation (und war auch im Palladium aufgetreten). Aber Rodrigo wirkt doch sehr viel selbstbestimmter, hat auch keine Probleme, noch einmal ihren frühen Disney-Song „All I Want“ anzustimmen. Sie hat ihn ja selbst geschrieben und ihr Vorbild ist eher Taylor Swift als eine der Teen-Queens der Nuller Jahre.
Nach einem finalen „Good 4 U“ feuern die Konfettikanonen. Es ist nur eine Stunde vergangen, aber was für eine Stunde! Das Bild, das bleibt ist vielleicht Olivia Rodrigo, die sich auf dem Flügel räkelt, die Beine hoch, den Kopf abgewinkelt, und ihrem Ex noch einmal genüsslich nachruft, dass er ein verdammter Verräter sei. „Verräter“, pflichten Tausende schwitzender Mädchen bei. Dafür haben sie sich stundenlang in der Schanzenstraße braten lassen, für diesen Moment. Liebeskummer lohnt sich.