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„Sibirien“ an der Oper BonnDer freiwillige Gang ins Straflager

Lesezeit 4 Minuten
Auf der Bühne stehen zwei sehr hohe Bücherschränke, in der Mitte zeigt ein Spalt einen Strand, wo ein Paar sich an den Händen hält.

Das in der Oper Bonn aufgeführte „Sibirien“ beginnt mit einer Rahmenhandlung im Archiv

In der Oper Bonn wurde mit Umberto Giordanos „Sibirien“ ein Stück von 1903 aufgeführt, das immer noch aktuell ist.

Erst vom Ende der Oper aus versteht man die wirklichen Hintergründe der Personen und ihrer Handlungen. Erst rückwirkend werden vermeintliche Klischees demontiert und Unstimmigkeiten aufgelöst. Doch eigentlich ist von Anfang an das ganze Drama präsent, zumindest hörbar im Orchester. Den ersten Auftritt der weiblichen Hauptfigur Stephana begleiten düstere Schicksalsakkorde wie aus Wagners „Götterdämmerung“, gefolgt von einem völlig unpassenden Glissando-Flirren der Harfe, so als trage Alberich eine Federboa. Schon hier wird dunkle Tragik mit kokett glitzerndem Glamour kaschiert.

Umberto Giordanos 1903 an der Scala in Mailand uraufgeführte Oper „Siberia“ beginnt mit dem Memento mori eines hinter der Bühne gesungenen Chorals „Liebe dein Leben, der Tod kommt auch für dich“. Und mit der ersten Szene springt prompt sprühende Lebenslust aus dem Orchestergraben und überzieht sich die graue Zimmerwand wie von Zauberhand mit kostbarer Gold-Brokat-Tapete.

„Siberia“ zeigt Stephanas freiwilligen Gang in ein Straflager

Sein und Schein treten schon hier offensichtlich auseinander. Das gilt auch für die Heldin Stephana. Vorgeblich reiche Salondame in St. Petersburg ist sie in Wirklichkeit nur käufliches Lustobjekt für die im Nebenzimmer wartende Herrengesellschaft. Dort reißen Militärs und Adelige zotige Witze über das älteste und modernste Instrument: den in die Scheide rein und raus fahrenden Säbel beziehungsweise männlichen Phallus.

Vier feine Herren, die über einem Tisch gebeugt ihre Säbel vorzeigen. Im Hintergrund einige Polizisten und wertere Herren, die vor tapezierten Wänden stehen

Die Militärs in Umberto Giordanos Oper verstehen unter Säbelrasseln etwas anderes

Von schneidigen Trompeten flankiert zwingt Zuhälter Gleby mit einschüchterndem Bariton (Giorgos Kanaris) die Frau zu Liebesdiensten. Die Kurtisane bandelt auch brav mit einem Fürsten an. Und als ginge es wirklich um ein bukolisches Schäferstündchen, hört man ein zartes Idyll aus Streichern und Holzbläsern. Doch all das ist nur Lüge.

Der vom reichen Mann gekauften Lust steht Stephanas wahre Liebe zum armen Soldaten Vassili entgegen, dessen rückhaltlose Leidenschaft in kraftvollem Tenor erstrahlt (großartig George Oniani). Es kommt zum Handgemenge zwischen Freier und Geliebtem. Als dieser daraufhin ins sibirische Straflager geschickt wird, folgt ihm Stephana in scheinbar selbstaufopfernder Liebe. Die Handlung kippt von einem Klischeebild der Jahrhundertwende um 1900 ins andere: Die Hure wird zur Heiligen.

Umberto Giordano Verismos sozialkritisches Werk ist immer noch aktuell

Im Lager schildert der Gefangene die Leiden unter sonnenverbrannter Steppe, eiskaltem Winter, Regen, Sumpf, Wind und heulendem Wölfe mit dramatischer Chromatik und effektvoll eingeblendetem Klagechor. Das Duett der im Unglück vereinten Liebenden blüht dagegen umso wärmer auf. Dass die Hausfrau dem Liebsten dazu warme Wollsocken und Handschuhe anzieht, wirkt so überzogen bieder, dass es die Szene ironisch bricht.

Auch die volksmusikalische Heiterkeit der inhaftierten Frauen und Männer will nicht zum täglichen Überlebenskampf im sibirischen Gulag passen. Die Zeichnung der Personen wirkt eindimensional, Text und Handlung teils geradezu abgeschmackt und die Musik regelrecht deplatziert. Doch genau aus diesen vermeintlichen Unstimmigkeiten zieht Umberto Giordanos Verismo letztlich seine dramatische Spannung, sozialkritische Wahrheit und bleibende Aktualität.

Aufführung in der Oper Bonn zeigt das kalte Sibirien als Weg zur Freiheit

Mit Erscheinen des Zuhälters Glebys im Lager wird der schöne Schein der Oper vollends abgeschminkt und als Fassade eines brutalen sexuellen Missbrauchs entlarvt. Der Zuhälter wünscht sich für seine süffisanten Enthüllungen ausdrücklich volles Orchester, doch erklingt dann nur ein Klavier. Zu frivol klimpernder Unterhaltungsmusik brüstet sich Gleby, die erst 15-jährige Stephana einst zur Prostitution gezwungen zu haben.

Vassili hält ein Baby in den Händen, Stephana ist dicht neben ihm. Hinter den beiden wächst ein Baum. Im Hintergrund liegen Schauspieler des Ensembles wie leblos auf dem Boden.

George Oniani und Yannick-Muriel Noah in ihren Rollen als Vassili und Stephana

Das Luxusleben der Dame à la Verdis „La Traviata“ im prachtvollen Salon wird mit einem Mal als goldener Käfig kenntlich. Und ihr freiwilliger Gang nach Sibirien ist nicht nur heldisch selbst gewählte Gefangenschaft, sondern vor allem die lang ersehnte Befreiung aus jahrelanger männlicher Unterdrückung und Ausbeutung. Die hymnischen Preislieder auf die Schönheit und Weite der sibirischen Landschaft gewinnen so eine ganz neue Plausibilität. Ausgerechnet Sibirien, der Kältepol der Welt, bedeutet für diese Frau Freiheit.

Regisseur Vasily Barkhatov geht kreativ mit dem Stoff um

Regisseur Vasily Barkhatov führt in seiner Inszenierung eine neue Rahmenerzählung ein. Während der Vor- und Zwischenspiele zeigen Schwarzweiß-Filme (Christian Borchers) eine alte Frau, die 1992 von Rom nach St. Petersburg und weiter bis nach Sibirien reist. Die Dame ist die Tochter des beim Fluchtversuch aus dem Lager erschossenen Paars Stephana und Vassili.

Auf der Suche nach Spuren der Eltern gelangt sie im zweiten Akt in ein Archiv (Bühnenbild Christian Schmidt), aus dessen riesiger Aktenwand plötzlich der Chor zu hören ist, als würden die Toten des Straflagers zu sprechen beginnen. Chor und Extrachor des Theaters Bonn singen ausgezeichnet. Die Vokalsolisten sind allesamt überragend. Und das Beethoven Orchester Bonn unter Leitung von Daniel Johannes Mayr spielt ebenso rauschhaft und dramatisch wie lyrisch und filigran. Ein Erlebnis!