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„Marseille 1940“ bei der phil.CologneWie Anna Seghers und Heinrich Mann den Nazis entkamen

Lesezeit 4 Minuten
Die große Flucht der Literatur – Uwe Wittstock über Marseille 1940

Moderator Christian Schärf und Uwe Wittstock in der phil.cologne

Uwe Wittstock stellte bei der phil.Cologne sein Buch „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“ vor.

Auf der Flucht vor den Nazis erreicht Anna Seghers mit ihren Kindern das Dorf Longpont-sur-Orge. Es ist ein Geisterort. Häuser, Gärten und Straßen sind leergefegt, die Menschen sind alle fort und an der Kreuzung steht ein einsamer Panzer. Als ihr Sohn Peter auf einer Karte nachschaut, wo sie eigentlich lang wollen, geht die Luke des Panzers auf und ein französischer Soldat kommt heraus. Er bittet darum, auch mal auf die Karte schauen zu dürfen, er habe sich verfahren.

Es ist nur eine von vielen Geschichten aus Uwe Wittstocks Buch „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“. Sein Buch stellte er im Rahmen der die phil.Cologne in der Kulturkirche in Nippes vor, Christian Schärf moderierte. Die Protagonisten aus „Marseille 1940“ sind große Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in Frankreich ins Exil gegangen sind und dann wieder fliehen mussten, als die Nazis immer größere Teile des Landes eroberten, etwa Hannah Arendt, Heinrich Mann oder Lion Feuchtwanger.

Marseille 1940 bietet ein Panorama aus Exil-Schriftstellern

Die Vielzahl der Figuren und ihre sich überlappenden Lebenswege erzeugen im Buch eine besondere Dynamik. Auch wenn er nicht alle Geschichten erzählen kann, wollte Wittstock ein Panorama erstellen. Eine heimliche Hauptfigur gibt es aber doch: den US-amerikanischen Journalisten Varian Fry. Fry war schon in Harvard als streitbarer, aber kulturinteressierter Mann aufgefallen. Er kannte und schätzte die europäische Avantgarde. Als er erfuhr, wem alles unter der NS-Besatzung in Frankreich Auslieferung und Tod drohte, schuf er in Marseille ein Hilfsnetzwerk, um Intellektuellen und Schriftstellern die Flucht zu ermöglichen. Das kostete viel Geld, aber für Prominente ließ sich leichter um Spenden werben.

Trotzdem liefen die Ereignisse alles andere als reibungslos ab. Anna Seghers etwa wurde auf ihrer Flucht aus Paris von der Wehrmacht eingeholt und verbrannte ihre Papiere, um nicht erkannt zu werden. Zudem waren die französischen Grenzen geschlossen. Eine Flucht war also nur illegal möglich.

Die Geschichten könnten auch aus Serien oder Romanen stammen

Heinrich Mann, damals schon 69 Jahre alt, musste mit seiner Frau Nelly und seinem Sohn Golo über einen steilen Bergpass ins spanische Portbou. Die Flucht, die auch Alma Mahler-Werfel mit Partituren von Bruckner und Gustav Mahler im Gepäck antrat, wurde für Fry zum Fiasko: „Alle seine prominenten Schützlinge sind auf halbem Weg von französischen Grenzern gestellt worden.“ Diese ließen die Exilanten glücklicherweise und gegen ihre Vorschriften ziehen. Keine Selbstverständlichkeit: Walter Benjamin etwa nahm sich in Portout das Leben, weil spanische Grenzer ihn zurück nach Frankreich abschieben wollten, wo ein französisches Internierungslager oder sogar die Nazis auf ihn gewartet hätten.

„Es sind Szenen drin, die auch in Romanen stehen könnten“, sagte Christian Schärf. Das gilt auch für die Figuren, die Varian Fry unterstützten, etwa Mary Jayne Gold. Als reiche Erbin hatte sie ein Leben in Saus und Braus verbracht. Sie war Pilotin, hatte ein eigenes Flugzeug, verliebte sich in einen Deserteur der Fremdenlegion, der in einem Bordell untergekommen war. Kein Wunder, dass es auch eine Netflix-Serie zu den Ereignissen um Varian Fry und Mary Jayne Gold gibt („Transatlantic“).

Varian Frys Verdienste wurden erst spät geehrt

Trotz des literarischen Charakters des Buchs betonte Wittstock, dass er nichts erfunden habe, alles stamme aus den Erinnerungen derjenigen, die dabei waren. „Ich würde mir das nicht anmaßen wollen, Lion Feuchtwanger oder Alma Mahler-Werfel Worte in den Mund zu legen. Das sind alles Dinge, die aus den Dokumenten, Briefen, Tagebüchern oder Autobiografien der Künstler entnommen sind.“

Wittstock ergänzte die Lesepassagen und seine Ausführungen mit einer Powerpoint-Präsentation, auf der er etwa eine Frankreich-Karte zur Veranschaulichung des Nazi-Einmarsches oder Fotos der beteiligten Personen zeigt. Und auch als Schärf schon den Abschied einleitete, schob Wittstock noch schnell eine Geschichte hinterher: Er zeigte dem Publikum die beiden Büros, in dem Varian Fry und sein Team arbeiteten. Eine Gedenktafel sucht man im zweiten, 1941 genutzten Büro aber vergeblich. Varian Frys Taten gerieten nämlich in Vergessenheit. Erst im Jahr seines Todes wurde er wegen seiner Verdienste in die französische Ehrenlegion aufgenommen.

Wittstock fand dann aber doch noch einen Hinweis auf Varian Fry: Noch immer steht auf einem Klingelschild des ehemaligen Büros sein Name. „Man hat Varian Fry quasi noch als Mieter geführt, 80 Jahre danach. Ich finde es außerordentlich liebevoll von den Franzosen, ihm einen Raum in dieser Stadt zu lassen, als würde er nach wie vor dort hingehören.“