Philosophie Kant aktuellDenker der Ohnmacht und die Sterbehilfe

Immanuel Kant
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Eigentlich ist sie unantastbar. Trotzdem ist die menschliche Würde so verletzbar wie kaum etwas anderes. Man kann sie nicht riechen, sehen oder betasten. Und dennoch erkennen – oder besser empfinden – wir klar und deutlich, wenn unsere Würde oder die eines anderen verletzt wurde. Die Menschenwürde zählt in Deutschland zu den wichtigsten Rechtsgütern. Das prominente Bekenntnis in Artikel 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Mittlerweile ist sie eine Art Identitätsmerkmal der Republik, denn wie kein anderer Artikel des Grundgesetzes prägte der erste den rechtspolitischen Diskurs der vergangenen Jahrzehnte.
Alle Diskussionen über die Grenzen von Medizin und Biotechnologie, über Datenschutz und Sicherheit sind Teil des juristischen und politischen Kampfes um die Menschenwürde. Ist sie tangiert, ist eine Maßnahme wegen der Unantastbarkeitsgarantie verboten. Relativierungen sind nicht möglich, Abwägungen jeglicher Art tabu. Auch die aktuelle Debatte über die Sterbehilfe ist davon nicht ausgenommen. Beide Seiten, Befürworter und Gegner der Sterbehilfe, bemühen die Würde des Menschen, um ihre jeweilige Position zu rechtfertigen.
Die Würde des Menschen ist ein schillernder Begriff. So flüchtig und dabei so wichtig für den Menschen in seiner persönlichen Existenz. Es ist gerade das Gefühl, in Würdelosigkeit leben zu müssen, das einigen älteren Menschen am Ende ihres Lebens dieses Leben selbst überdrüssig werden lässt. Wir wollen selbst über unser Leben bestimmen. Werden wir nur als Mittel gebraucht oder sind wir Gewalt ausgesetzt, fühlen wir die Ohnmacht der Würdeverletzung. Anderen ausgesetzt zu sein, ohne über sein eigenes Leben nach eigenen Wünschen, dem eigenen Willen verfügen zu können, ist oftmals der Grund, wenn Menschen ihres Lebens überdrüssig werden.
Peter Bieri: „Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde“, Fischer, 384 Seiten
Klaus Düsing: „Fundamente der Ethik“ , Verlag Frommann-Holzboog, 63 Euro
Der Düsseldorfer Philosoph Dieter Birnbacher verweist gerade auf diesen Aspekt in der aktuellen Debatte über die Sterbehilfe. Menschen, die ausschließlich durch medizinische Apparate am Leben erhalten werden, können dies als Verlust ihrer Würde empfinden, weil sie es als Zerstörung ihres Selbstbildes sehen, im Sinne von: „Das bin nicht mehr ich.“ Gleiches gilt für Angehörige, denen das Wohl eines Menschen am Herzen liegt – und die gerade deshalb einen Würdeverlust erkennen, wenn dieser Mensch nur noch dank medizinischer Technologie am Leben bleibt.
Doch was ist Würde? Wir erkennen eine Würdeverletzung, wenn ein Mensch gedemütigt wird. Demütigung ist die Erfahrung, dass uns jemand die Würde nimmt, eine Erfahrung der Ohnmacht. Immer, wenn wir einen bestimmten Wunsch, den wir haben, nicht erfüllen können, sind wir ohnmächtig. Und diese Ohnmacht kann verschiedene Ausprägungen haben. Wir können uns nicht mehr bewegen, wir können nicht denken, wie wir es sonst von uns erwarteten. Es geht hier um subjektive Bewertungen. Objektiv, etwa aus Sicht eines Arztes, kann sich dies ganz anders darstellen.
Andererseits: Wir erblicken Menschen, die mit Würde auftreten, gerade auch in Extremsituationen, etwa wenn sie einen besonderen Mut in einer ausweglosen Lage zeigen. Aber wenn ein Fußballspieler einen schlechten Pass auf seinen Nebenmann spielt, sagen wir kaum, er habe seine Menschenwürde verloren. Was also ist sie? Eine rhetorische Figur ohne gedanklichen Inhalt? Wie so oft in der Philosophie verwenden wir einen Begriff. Doch wenn wir sagen sollen, was er bedeutet, müssen wir eingestehen, dass wir es nicht sagen können.
Hat Würde eine Entsprechung in der Wirklichkeit? Viele meinen, dass die Würde dem Menschen wie eine Art Eigenschaft anhängt – qua Mensch kommt diesem auch Würde zu. Und wenn das Grundgesetz davon spricht, dass sie unverletzbar sei, bedeutet dies im landläufigen Sinne, dass sie durch das Recht gegen Angriffe geschützt wird. Darüber hinaus ist sie etwas, das man dem Menschen nicht nehmen kann, weil sie untrennbar mit ihm verbunden ist.
Der Menschenwürde-Artikel stützt sich auf die Theorie eines der bedeutendsten Philosophen der Geschichte: Immanuel Kant (1724-1804). Der Mann, der seine Geburtsstadt Königsberg – bis auf eine Ausnahme – nie verließ, hat sich sein ganzes wissenschaftliches Leben lang mit Fragen der Moral befasst. Seine Idee von der Menschenwürde gründet darin, dass Menschen sich gegenseitig als Selbstzwecke achten müssen, die niemals bloß als Mittel genutzt werden dürfen. Eine zentrale Einsicht, die im Grundgesetz aufgenommen wurde.
Aber was ist ein Zweck und was ein Mittel? Will Kant sagen, dass wir dann schon die Würde des Menschen verletzen, wenn wir ihn als Mittel benutzen? Nein. Menschen werden etwa in der Arbeitswelt ständig von anderen als Mittel gebraucht, sei es, um einen Laster zu beladen, sei es, um einen Text zu schreiben. Wichtig ist, dass der Mensch dabei jeweils als Zweck an sich gesehen wird.
„Zweck an sich“ ist ein Kunstwort. Es bedeutet: Jeder Mensch ist zwar immer vielfaches Mittel eigener und fremder Handlungen – aber darin soll er sich als Zweck an sich nicht erschöpfen. Nach Kant soll der Mensch nicht nur Lebewesen sein, sondern schießt darüber als Zweck oder „Ding an sich“ hinaus. Daraus bezieht er seine Selbstpflicht, seine Rechtlichkeit und letztlich seine Würde.
Ist damit alles gesagt? Keineswegs. Denn ein Blick in die Geschichte wie auf die Gegenwart lehrt, dass die Vorstellungen über Würde alles andere als klar sind. Der römische Gelehrte Cicero sah die Dignitas (Würde) primär als ein Attribut des Staates, des Römischen Reiches. Die Zuschreibung zum Staat nahm übrigens ein gewisser Carl Schmitt (1888-1985) im 20. Jahrhundert wieder auf. Der zweifellos brillante Staatstheoretiker galt als einer der Ideologen des Nazi-Staates zwischen 1933 und 1945. Für Cicero war der Begriff „Würde“ nur sinnvoll, wenn er Abstufungen zulässt. Die Idee, dass die Würde nicht nur unantastbar ist, sondern auch eine zeitlich uneingeschränkte Bedeutung hat, wurde im Mittelalter durch die christliche Kirche entwickelt. Hier attestierte man dem Papst eben jene Würde, die ewig gültig sei. Im Grunde genommen nimmt Kant später die Idee einer ewigen Würde auf, bezieht sie aber auf den Menschen: Als ein vernunftbegabtes Wesen komme ihm diese im höchsten Maße zu.
Der scheinbar höchste Wertbegriff unserer Existenz lässt uns zweifelnd zurück, wenn wir uns auf ihn besinnen und nach seiner Herkunft und Gehalt fragen. Die Würde ist das dirigierende Zentrum unserer bewussten Existenz. Sie ist eine Art Lebens-Obsession, denn zur eigenen und fremden Würde verhalten wir uns ständig – gut und richtig oder schlecht und falsch. Sie hat etwas zu tun mit unserem Antlitz, unserem Selbstbild, mit Vorstellungen wie Anmut und Selbstbestimmung.
Mit der chronischen Unbestimmtheit des Begriffs müssen wir leben. Aufgeben können wir die Idee von der Würde des Menschen nicht. Der Preis dafür wäre zu hoch.