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Literaturfestival Poetica zur NaturSo macht das Artensterben unsere Sprache ärmer

Lesezeit 4 Minuten
Ali Abdollahi trägt einen gestreiften, bunten Pullover. Er hält eine Schafsglocke aus seiner Kindheit hoch.

Ali Abdollahi zeigt bei der Poetica eine Schafsglocke

Bei der Poetica diskutierten Autorinnen und Autoren darüber, wie der Verlust von Natur sich in der Sprache niederschlägt.

Der saure Geschmack von Äpfeln, das Klingeln traditioneller Schafsglocken, eine Insel voller Glühwürmchen. Die Zeit lässt manche besondere Eindrücke und Erinnerungen verschwinden und hinterlässt so eine Lücke zwischen den Erfahrungen verschiedener Generationen. Mit dem Klimawandel hat dieser Prozess an Fahrt aufgenommen.

Auf diesen Umstand machte auch das internationale Literaturfestival Poetica aufmerksam. Unter dem Titel „Lost Words – Lost Worlds“ ging es am Donnerstag darum, wie der Verlust von Natur sich in der Sprache niederschlägt. Die Autorinnen und Autoren der Poetica haben dafür verschiedene Objekte und Fotografien mitgebracht, anhand derer sie diesen Verlust erleben.

Internationales Literaturfestival Poetica über Sprache und Natur

Der Titel der Veranstaltung spielt auf den britischen Autor Robert MacFarlane an. Der beschäftigte sich mit seinem Buch „The Lost Words – A Spell Book“ damit, dass viele Worte, mit denen man die Natur beschreibt, aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwinden. So strich etwa das Oxford Junior Dictionary, ein Wörterbuch für Kinder, Worte wie „acorn“ (Eichel), „lark“ (Lerche) oder „kingfisher“ (Eisvogel) und nahm stattdessen Worte wie „broadband“ (Breitband) auf. Damit reagierte das Wörterbuch auf die veränderte Lebensrealität der Kinder, die mit bestimmten Pflanzen und Tieren nicht mehr in Kontakt kommen.

An den Objekten und Fotografien, die die Autorinnen und Autoren mitgebracht haben, hängen persönliche Geschichten. Liana Sakkelliou zeigt auf einem Bild ein Einmachglas voller Glühwürmchen. In ihrer Kindheit bewunderte sie die Tiere auf der griechischen Insel Poros. Als Kind sei sie den Glühwürmchen begegnet, wenn sie von ihrem Haus ins Dorf ging. „Sie haben mir das Gefühl gegeben, dass ich im Paradies bin“. Die Tiere seien auf der Insel leider ausgestorben.

Ali Abdollahi hat zwei Schafsglocken dabei. Er erzählt, wie er als Kind im Iran auf eine Herde mit Schafen und Ziegen aufgepasst hat. Auf der Poetica lässt Abdollahi die Glocken immer wieder erklingen und ahmt nach, wie sie klingen, wenn die Schafe friedlich weiden oder wenn sie wegen einer Schlange aufgerüttelt werden. Als in seinem Heimatort das Wasser versiegte, machte es die Viehzucht dort unmöglich. Trotz der Abwesenheit der Herden findet man den Klang und den Rhythmus der Glocken in der iranischen Dichtung und Musik.

Sprache soll Natur nicht nur konservieren, sondern rechtzeitig warnen

Esther Kinsky erinnert mit einem Apfel an die Obstbäume aus dem Garten ihres Großvaters, der alle Äpfel nach spezifischen Sorten benennen konnte. Doch wie so vieles wird auch der Apfel standardisiert, viele Sorten sind heute verschwunden. „Es gab eine Sorte aus Ungarn mit dem Namens Oster Rosmarin. Sie war bis Januar oder Februar praktisch ungenießbar und bekam erst gegen Ostern ihren vollen Geschmack.“ Heute seien Äpfel eine ständig verfügbare Frucht mit einem vergleichsweisen faden Geschmack. „Ich finde es furchterregend, dass ein Geschmack verschwindet, weil es absolut keine Möglichkeit gibt, das zu konservieren. Wir haben die Worte dafür, aber es wird eine Zeit kommen, in der Kinder sich nicht mehr vorstellen können, wie ein saurer Apfel schmeckt.“

Der Dichter Nikola Madzirov hat Münzen aus Nordmazedonien mitgebracht, die er dem Publikum überlässt. Auf ihnen sind ein Schäferhund aus dem Gebirgszug Šar Planina, eine Ohridforelle und ein Balkanluchs abgebildet. In gewisser Weise versuche der Mensch damit den Anblick der Tiere zu bewahren, so der Dichter, aber die Ironie sei, dass ein Jäger mit ihnen auch Munition kaufen könne: „Der Luchs ist viel schöner, wenn wir ihn nicht sehen können.“ Mit der Verbreitung elektronischer Zahlung verschwinden die Münzen allmählich. Die Tiere auf ihnen sterben damit einen zweiten Tod. „Der Sinn der Sprache ist nicht nur zu konservieren. Sie soll Dinge aufzeigen und warnen.“

Doch kann Poesie ein Refugium für die Dinge sein, die unwiederbringlich verloren sind? Der aus St. Lucia stammende Dichter Kendel Hippolyte meint: Sie könne eine Erinnerung vielleicht nicht so bewahren, dass das Geräusch einer Schafsglocke in den Köpfen der Leserinnen und Leser genau so wieder hervorkommt. Aber vielleicht kann sie das gleiche Gefühl wecken, das Ali Abdohalli bei diesem besonderen Klang verspürt hat, als er im Iran Schafe und Ziegen hütete.