Sigmar PolkeOrdnung ist das halbe Künstlerleben

Ein Mann betrachtet ein Sigmar-Polke-Werk aus der Ausstellung „Alibis: Sigmar Polke 1963?2010“ im New Yorker MoMA. Im Zollstocker Atelier des einsiedlerischen Künstlers ist das Fotografieren leider streng verboten.
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Köln – Das ist also die Tür, die für so viele Sammler und Museumsdirektoren verschlossen blieb. Sie gehört zu einem schmucklosen Fabrikgebäude im Kölner Stadtteil Zollstock, das Sigmar Polke zwischen 1991 und seinem Tod im Jahr 2010 als Atelier und Trutzburg gegen weit gereiste Kuratoren und Enthusiasten diente. Seit Polkes Tod ordnet hier der Polke Estate des Malers Erbe, und doch blickt man unweigerlich zu den Fenstern hinauf – vielleicht steht jetzt Polkes Geist hinter der Gardine, um nachzusehen, wer Einlass begehrt.
Über Sigmar Polke, den berühmten Maler und berüchtigten Einsiedler, kursieren zahllose Anekdoten. Eine der schönsten stammt von Wulf Herzogenrath, dem langjährigen Direktor des Kölnischen Kunstvereins. Bei einem Besuch in Polkes Atelier habe sich dieser dicht vor ihm aufgebaut und ganz langsam mehrere Grafiken zerrissen. „Die magst Du doch so gerne“, soll Polke jedes Mal gesagt haben, bevor er Hand an das nächste Exemplar legte. „Jahre später hat er mir einen Nachdruck dieser Grafiken als Geschenk mit der Post geschickt. Aber er brauchte diese negative Energie, die hat ihn regelrecht aufgeladen.“
Kulturelle Unterschiede zwischen Köln und New York
Hinter der Tür zu Polkes Atelier ist von dieser negativen Energie nichts zu spüren. Durch einen schmalen Flur gelangt man in eine helle Halle, in der sich ein Teil von Polkes riesiger Bibliothek befindet; überall drehen einem leere Leinwände den Rücken zu, als warteten sie auf die Heimkehr ihres Meisters. Rechts liegen die Arbeitsräume des Polke Estate, dessen Mitarbeiter im Auftrag von Polkes Witwe und Kindern den Nachlass sichten, ordnen und das erste Werkverzeichnis des Künstlers erstellen. Hier liefen auch die Fäden für die große Polke-Retrospektive zusammen, die derzeit in New York gezeigt wird und nächstes Jahr im Kölner Museum Ludwig gastieren wird.
Am großen Holztisch der geräumigen Atelierküche erzählt Michael Trier, künstlerischer Leiter des Polke Estate, von überraschenden kulturellen Unterschieden zwischen New York und Köln. In Amerika der 60er Jahre dachten und malten die Künstler in großen Dimensionen, weshalb selbst Kuratoren heute nicht verstehen, warum Polke damals nur kleinere Formate füllte. „Sie können sich nicht vorstellen“, sagt Trier, „dass Polke unterm Dach in beengten Verhältnissen lebte und größere Leinwände gar nicht in die Wohnung gepasst hätten.“
Die Retrospektive des Kölner Malers Sigmar Polke (1941 – 2010) läuft noch bis 3. August im MoMA in New York. Im März 2015 wird sie mit anderen Facetten im Kölner Museum Ludwig gezeigt.
„Sigmar Polke – Alibis“, Museum of Modern Art. Der englischsprachige Katalog kostet im Buchhandel ca. 54 Euro. (KoM)
Keine Spur von der Giftküche
Im Wesentlichen hat sich das Atelier seit Sigmar Polkes Tod vor vier Jahren kaum verändert, berichtet Trier, der als Restaurator und Sammler zu den nicht übermäßig vielen Vertrauten Polkes zählte. Lediglich die afrikanischen Masken, die jetzt über dem Esstisch wachen, hätten auf dem Atelierboden gelegen; eine von ihnen grinst so breit über das ganze Gesicht, dass man sie für ein Selbstporträt des großen Ironikers Polke halten könnte. Von der legendären Giftküche, in der Polke mit arsenhaltigen Pigmenten und Lösungsmitteln experimentierte, findet sich dagegen keine Spur. Sie ist in den letzten Jahren, als Polke schon schwer erkrankt war, wohl kalt geblieben. Entsorgt musste laut Trier jedenfalls nichts werden.
In den 80er Jahren hatte sich Polke als Alchemist neu erfunden und Gemälde geschaffen, die mit der Lufttemperatur den Farbton wechseln oder dank Zusatz von Silberstoffen einen Spiegeleffekt entwickeln. Mit diesen giftigen Materialien sei Polke aber immer sehr umsichtig gewesen: „Er hat meist mit Atemmaske oder draußen im offenen Zelt gearbeitet“, so Trier, und überhaupt habe Polke seltener experimentiert als es den Anschein hat. „Die Bilder sehen oft giftiger aus als sie sind.“
In seinem alchimistischen Spätwerk kehrte Polke teilweise zu den Lehren von Karl Otto Götz und Gerhard Hoehme zurück, den Professoren seiner Düsseldorfer Akademiezeit, von denen er sich in jüngeren Jahren mit seiner rotzfrechen Aneignung der Pop Art noch abgesetzt hatte. Gerade in dieser Frühzeit gibt es für den Estate noch viel zu forschen: Anders als Gerhard Richter, sein Weggefährte dieser Zeit, fehlte Polke der höhere Ordnungssinn. „Polke hat viel Material und viele Dokumente hinterlassen“, berichtet Trier. „Ein großes Puzzle, das wir zu einem Bild zusammenfügen müssen.“
Hunderte kleine Puzzlestücke sind etwa Polkes bislang kaum bekannten Filme. Ihre Sichtung hat für die New Yorker Retrospektive überhaupt erst begonnen, wobei die Trennlinie zwischen dem, was privat und was künstlerisch ist, kaum zu ziehen ist. „Bei Polke sind Kunst und Leben besonders stark ineinander verwickelt“, sagt Trier, „seine Filme hat er oft aus der Hüfte geschossen und wie in seiner Fotografie viel mit ihnen experimentiert.“ Etwa indem er die Filme zurückspulte und ein zweites Mal belichtete. Damit brachte er den Zufall und auch etwas geradezu Kindlich-Spielerisches in die kontrollierte Kunst: „Er freute sich auf das Ergebnis“, so Trier, „ohne es genau vorhersagen zu können.“
Hunderte oder gar Tausende Dias werden gesichtet
In der hinteren Halle des Zollstocker Ateliers befindet sich der abgedunkelte Medienraum. Hier sah sich Polke auf einer gemütlich abgewetzten Couch seine Filme an und hier projizierte er Dias an die Wand, um Vorlagen auf die Leinwand zu übertragen. Dutzende von Hunderten oder gar Tausenden solcher Dias liegen auf einem Tisch und warten darauf, gesichtet zu werden. Die Kunsthistoriker des Estate nehmen diese und andere scheinbar endlose Mühe auf sich, um Polkes Bild- und Inspirationsquellen zu dokumentieren. Am Ende soll jenes kritische Werkverzeichnis stehen, um das sich Polke zum Leidwesen von Sammlern, Händlern und wohl auch ihm selbst immer herumdrückt hatte.
Das Bild Sigmar Polkes dürfte die Arbeit des Estate wohl so wenig umstürzen wie die Retrospektive in New York. Aber einige Facetten wird sie ihm sicherlich hinzufügen – und vielleicht auch den Wildwuchs der Legenden stutzen. „Für Außenstehende mag das Atelier chaotisch ausgesehen haben“, sagt Trier. „Aber das war ein kreativer Prozess und Polke wusste immer, wo er was zu suchen hat.“ Ganz ohne Ordnung ging es dann also auch nicht.
Aus diesem Grund hat sich auch keine Schatzkammer unbekannter Polke-Werke aufgetan. Der einzige Polke im Zollstocker Atelier stammt nicht einmal von ihm: Auf einer Staffelei steht eine in Plexiglas gefasste Leinwand, die der Estate als Fälschung aus dem Verkehr ziehen konnte. Die berühmten Polke-Raster sind viel zu pedantisch ausgeführt – eine Pointe, über den sich Punkte-Maler vielleicht sogar gefreut hätte.