Premiere am Schauspiel KölnWenn nur das nackte Leben bleibt
Köln – Das Lager ist, folgt man dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben, Sinnbild unserer Zeit. Selbst wenn sich Internierungs-, Arbeits-, Flüchtlings- oder Vernichtungslager schwerlich in eine Vergleichsreihe bringen lassen, ist ihnen doch dies gemein: Innerhalb ihrer Grenzen schafft die Politik eine rechtsleere Zone, einen Raum, in dem sie Menschen in einem permanenten Ausnahmezustand hält. In welchem diese, so Agamben, auf das „nackte Leben“ zurückgeworfen werden.
Herta Müller erzählt in ihrem Roman „Atemschaukel“ von der Lagererfahrung des 17-jährigen Leo Auberg, der als Angehöriger der deutschen Minderheit in Rumänien kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs zum Arbeitsdienst in die Sowjetunion verschleppt wird; eng angelehnt an die Erfahrungen des Dichters Oskar Pastior, von dem Müller erst nach Erscheinen ihres Romans und ihrer Ehrung mit dem Nobelpreis für Literatur erfahren wird, dass er für den rumänischen Geheimdienst, die Securitate, tätig war. Dem Lager entkommt man ebenso wenig wie dem totalen Zugriff der Diktatur.
Stückbrief
Regie: Bastian Kraft
Bühne: Peter Baur
Kostüme: Jelena Miletić
Video: Jonas Link
Musik: Björn Deigner
Mit: Nikolaus Benda, Stefko Hanushevsky, Justus Maier, Martin Reinke, Katharina Schmalenberg, Birgit Walter
Nächste Termine: 2., 9., 12., 24. November.; 11., 30. Dezember, 120 Min., keine Pause, im Depot 1
Der Frage nach der Schuld des Einzelnen und der Gesellschaft ist der Regisseur Bastian Kraft bereits in seinen vorangegangenen Inszenierungen am Schauspiel Köln nachgegangen. In Lars von Triers „Dogville“ präsentierte er den Zuschauern eine Vergewaltigungsszene, die nur in einem riesigen Spiegel zu sehen war: Wer gucken wollte, musste sich selbst dabei zusehen.
Für Jean-Paul Sartres „Die schmutzigen Hände“ ließ Kraft sein Ensemble durch ein Kabinett aus Spiegeln, identischen Räumen, Doppelgängern und Videos irren: Schuld ist ein anderer – aber der bin ja ich.
Für seine Dramatisierung von „Atemschaukel“ im Depot 1 hat er die Rolle des Leo unter sechs Schauspielern aufgeteilt, sie sind Opfer und Täter, Überlebender und lebenslang Gezeichneter zugleich. Martin Reinke ist der alte Mann, der am Schreibtisch seine Tagebücher und Erinnerungsstücke durchsieht, auf der Suche nach dem jungen Mann, der er einmal war und dessen Bild auf eine große Wand in Reinkes Rücken projiziert wird oder dort einen riesenhaften Schatten wirft.
Das Lager als Befreiung
Den jungen Leopold gibt zuerst Justus Maier, eingesperrt in einem raumhohen, halbdurchsichtigen Glaskasten. Im Live-Video spiegelt er sich ins Unendliche. Als er erfährt, dass er ins Lager muss, erscheint ihm das zuerst wie ein Befreiungsschlag; gerade erst hat er seine sexuelle Identität als schwuler Mann gefunden, doch die lässt sich unter den Augen der Familie und der kleinen Stadt kaum ausleben. Im Lager tritt das Geschlechtsleben jedoch schnell in den Hintergrund, fortan geht es um das Überleben an sich, um das Balancieren auf der „Atemschaukel“, um das tagtägliche Ringen mit dem „Hungerengel“.
Die Lagererfahrung des „nackten Lebens“ ist eine religiöse, und Müllers Metaphorik rührt dementsprechend ans Biblische. Beinahe könnte man sie kitschig nennen – aber das verrät nur den vollen Magen.
Große Bilder
Bastian Kraft jedenfalls scheut sich nicht, Müllers Metaphern in große Bilder umzusetzen: Nikolaus Benda, der in den Bühnenhimmel gehoben wird und dabei mit einer alles überdeckenden Plastikfolie wie mit Flügeln schlägt, Birgit Walter die mit gebeugtem Rücken den schweren Koffer der Displaced Person über die Bühne schiebt, Stefko Hanushevsky, der zum Strafgericht gegen den Brotdieb Karli Halmen einen Seilknoten gegen eine zunehmend eingedellte Kühlschranktür knallt, Katharina Schmalenberg, die aus dem Kühlschrank Kartoffeln klaubt und eilig unter ihre Kleider steckt, bis sie als grotesk verbeultes Hungermonster davon stapft.
Das Lager verformt jeden – bis auf die geistig zurückgebliebene Platon-Kati, deren Schwachsinn sie vor dem Zugriff sowohl der Aufseher als auch ihrer Mitgefangenen schützt. Der rational denkende, moralisch handelnde Mensch aber erkennt sich selbst nicht mehr als solcher und auch sein Nächster erscheint nur noch als derjenige, der einen wärmeren Mantel oder ein größeres Brotstück hat.
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Was vom Menschen bleibt, sind seine Geschichten. Auch wenn es keine schönen Geschichten sind. Vom hemmungslosen Überfressen, nachdem Leo einen Zehn-Rubel-Schein auf dem Markt gefunden hat, vom anschließenden Erbrechen unter Reuetränen. Vom Anwalt, der von der Suppe seiner Frau löffelt, bis diese entkräftet stirbt. Vom ekstatischen Schaufeln glühender Kohleschlacke, berauscht vom Gift der Dämpfe.
Und so wird aus dieser zweistündigen Inszenierung trotz ihrer aufwendig gestalteten Bilder doch noch vor allem ein starker Schauspielerabend. Sie legen Zeugnis ab vom nackten Leben.