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Premiere im Schauspiel KölnWie „Engel in Amerika“ die Wurzeln des Trumpismus erklärt

Lesezeit 5 Minuten
Engel in 
Amerika
TEIL I: DIE JAHRTAUSENDWENDE NAHT · TEIL II: PERESTROIKA
von Tony Kushner
Regie: Matthias Köhler
 
Regie: Matthias Köhler
Bühne: Patrick Loibl
Kostüme: Carla Renée Loose
Video: Marvin Kanas
Musik: Eva Jantschitsch
Lichtdesign: Michael Frank
Dramaturgie: Ida Feldmann
 
Foto: Thilo Beu

Sophia Burtscher sitzt auf dem Kopf der Freiheitsstatue in „Engel in Amerika“

Regisseur Matthias Köhler beweist im Depot 1 die prophetische Kraft von Tony Kushners „Engel in Amerika“. Unsere Kritik.

Keine Götter, keine Geister, keine Engel existieren in Amerika, doziert Louis Ironson, nur das Politische. Tony Kushners Stück „Engel in Amerika“ widerspricht ihm bereits im Titel, es widerspricht ihm in jeder Szene. Engel durchbrechen Decken in Brooklyner Apartments, Geister suchen Sterbende auf Palliativstationen in Manhattan heim, valiumsüchtige Hausfrauen unternehmen Astralreisen in die Antarktis, HIV-Infizierte verwandeln sich in amerikanische Propheten, sie haben sich den Virus der Prophezeiung eingefangen.

Ironsons Monolog wird sogleich von Belize unterbrochen, als Krankenpfleger und Dragqueen ein wahrer Engel für seine Freunde wie seine Feinde. Denn Louis' Säkularitätsbehauptungen dienen vor allem der Verdrängung einer überwältigenden Schuld: Er hat seinen Freund Prior Walter in der Stunde der größten Not verlassen, er konnte die körperlichen Zumutungen von dessen Aids-Erkrankung nicht länger ertragen.

Ein episches Panorama der Reagan-Jahre

Das Physische und das Metaphysische, sie bedingen sich in Kushners Welt. „Man kann nicht in der Welt leben, ohne eine Idee von der Welt zu haben“, heißt es an einer Stelle von „Engel in Amerika“, „aber es ist das Leben, das diese Ideen hervorbringt.“ Das Zitat fehlt zwar in Matthias Köhlers Inszenierung des zweiteiligen Dramas, die gerade im Depot 1 Premiere feierte. Aber wie Ideen aufeinanderstoßen, wie sie sich an der Wirklichkeit reiben, wie in der Hitze der Reibung neue Ideen geschmiedet werden, oder wie die Not neue Heilvorstellungen gebiert, das kann man hier über vier Stunden hinweg in Cinemascope verfolgen, eine sich atemlos überkreuzende Abfolge intimer Szenen, die ein episches Panorama der Reagan-Jahre ergibt.

Anfang der 1990er wurde „Engel in Amerika“ zuerst als Magnum Opus in der Geschichte des schwulen Dramas gefeiert, bald darauf als das wichtigste Theaterstück seiner Zeit. Heute staunt man darüber, wie hellsichtig Tony Kushner damals die Zeitläufte erfasste. Das war schon 2017/18 so, zur ersten Amtszeit von Donald Trump, als „Engel“ am West End und am Broadway mit Andrew Garfield als Prior Walter wiederaufgeführt wurde. Jetzt, wo die zweite Trump-Regierung queerfeindlichen Hass als Waffe gegen die amerikanische Idee an sich benutzt, wo auch in Teilen Deutschlands die Stimmung ins Reaktionäre driftet, erscheint nicht nur der aidskranke Protagonist Prior Walter, sondern das Stück an sich als Prophet wider Willen.

Bühnenbildner Patrick Loibl hat am rechten Rand der Bühne den liegenden Kopf der Freiheitsstatue platziert, halb im Boden versunken, von tiefen Furchen durchzogen. Man denkt an das Ende von „Planet der Affen“, an das Filmplakat von John Carpenters „Die Klapperschlange“ („Ganz Manhattan ist ein Hochsicherheitsgefängnis“) oder, ganz aktuell, an die Anfangssequenz von „The Brutalist“, in der die Kamera Lady Liberty in die Senkrechte kippt. Auf ihrem Ohr hat es sich Harper Pitt bequem gemacht. Sie ist einsam und tablettensüchtig und alleingelassene Menschen, sagt sie, fantasieren gerne davon „wie wunderschöne Systeme sterben, wie alte, feste Ordnungen auseinanderwirbeln“. Ihr Mann Joe arbeitet als Bürovorsteher für den Anwalt Roy Cohn, ja er ist ein Protegé des gefürchteten Kommunistenfressers – und ebenso wie sein Mentor verleugnet der junge Mormone seine schwule Sexualität.

In seiner konservativen Grundanständigkeit ist dieser Joseph Porter Pitt aber auch ein Gegenbild zum durch und durch korrupten Cohn, dessen reales Vorbild zur Zeit des Stückes bekanntlich Donald Trump in der Kunst des schmutzigen Deals unterwies. Oder sollten wir den Überzeugungstäter noch mehr fürchten als den Machtmenschen? Henri Mertens gelingt als Joe die Gratwanderung zwischen rührender Naivität und evangelikaler Unheimlichkeit, während Andreas Grötzinger als Roy Cohn ein nur allzu menschliches Monster erschaffen hat: Zu keiner Zeit, selbst nicht, als er qualvoll an Aids stirbt, kann man sich entscheiden, ob man ihn nun verachten oder bedauern will, eine tolle Leistung!

Matthias Köhler verstärkt den Sog des Stückes

Joe wird schließlich mit Louis zusammenkommen, während dessen Ex-Freund Prior ausgerechnet bei Joes kaltblütiger Mormonen-Mutter Hannah Beistand findet. Schon bevor sich die Paare direkt oder über Bande begegnen, zeigt Kushner ihre Szenen in Parallelmontage. Matthias Köhler lässt sie beinahe ineinanderlaufen und verstärkt so noch den Sog des Stückes. Allein die göttlichen Interventionen (oder Halluzinationen, aber ist das nicht dasselbe?) unterbrechen den Fluss – auch hier hält sich Köhler eng an Kushners Vorgabe, nach der solche magischen Momente wunderbare theatralische Illusionen sein sollen – die gleichwohl die Seilzüge zeigen, ohne die kein Engel aus dem Bühnenhimmel fährt. Genauso spielt ihn Nicola Gründel, mal selbstherrlich aufbrausend, mal über Muskelzerrungen klagend: Es ist nicht leicht, ein Deus ex machina zu sein.

Köhler kann sich auf sein Ensemble verlassen –etwa auf die maliziöse Schärfe, die Nicolas Streit dem siechenden Prior und Yvon Jansen dem Geist von Ethel Rosenberg verleiht – die Kommunistin, die Roy Cohn auf den elektrischen Stuhl gebracht hat. Oder auf Sophia Burtscher, die Harper Pitt nie zum Opfer werden lässt, auf Simon Kirsch, in dessen hochfahrendem Selbstmitleid man sich leider selbst erkennt. Und nicht zuletzt auf Kelvin Kilonzo, dessen Belize der moralische Anker des Stücks ist, ohne jemals langweilig zu werden.

Für den Regisseur bleibt da anscheinend eher wenig zu tun, aber das täuscht. Köhler setzt vor allem im zweiten Teil, „Perestroika“, eigene Akzente durch eingestreute Musiknummern, angefangen mit „Angst in My Pants“ von den Sparks, vom Ensemble als Choral gesungen. Die Angst ist berechtigt, die Aids-Katastrophe und die Radikalisierung der Republikaner unter Reagan wirken wie Vorzeichen der Trump-Nation. Als Yvon Jansens Hannah Porter Pitt auf eine Aussichtsplattform tritt und gen New York blickt, lässt Köhler kurz William Basinskis „The Disintegration Loops“ aufklingen, den inoffiziellen Soundtrack zu 9/11.

Am Ende – kleine Spoilerwarnung – fallen menschenähnliche Objekte vom Himmel und jetzt erkennt man auch erst, was die roten Farbkleckse auf den Kulissen sein sollen. Amerikas Engel sind gestürzt. Kushners Stück ist eine Warnung. Eine sehr unterhaltsame, mitreißende Warnung in dieser Inszenierung. Der Untergang der USA vergeht wie im Flug, verpassen sie ihn nicht.