Die Idee, seinen nackten Körper als Mittel zum politischen Protest einzusetzen – sie stammt aus der englischen Grafschaft Coventry. Zumindest der Legende nach, der zufolge Lady Godiva im 11. Jahrhundert ein Pferd bestieg, um gegen die überzogene Besteuerung des Volks durch ihren Gatten zu demonstrieren. Nur mit ihrer Sittsamkeit bekleidet, schrieb der viktorianische Vorzeigedichter Alfred Lord Tennyson, sei Lady Godiva in die Stadt getrabt, als mittelalterliche Vorreiterin von Femen.
Betrachten wir noch einmal das Bild der deutschen Femen-Aktivistin Josephine Witt – ein grobkörniges Dokument, vom diffusen Kerzenlicht des Weihnachtshochamts erhellt – und legen Empörung oder Zustimmung fürs Erste beiseite.
Wie sie da – nur mit einem als Lendenschurz um die Hüfte geschlagenen schwarzen Pullover bekleidet – auf dem Altar des Kölner Doms gesprungen ist. Wie sie die Füße weit auseinander gestellt, die Beine angewinkelt, die Arme hochgereckt und die Hände ausgestreckt hat. Wie zum Kriegstanz. Der Mund geöffnet, die Augen geschlossen, die Haare wallend rot – beinahe ein präraffaelitisches Porträt der legendären Lady, wäre da nicht die Ausdruckskraft und Wildheit, die eher an Emil Noldes „Tanz um das Goldene Kalb“ denken lassen, ausgerechnet.
Die Brüste als Waffe
„I am God“ („ich bin Gott“) hat sich Witt in schwarzer Farbe über den entblößten Oberkörper gepinselt. Eine unklare Botschaft, man kann sie als Provokation verstehen, als Anmaßung oder auch schlicht als weihnachtliche frohe Botschaft, nach der Gott in uns allen sei. Nach eigener Aussage wollte Witt mit ihrem Altarsprung allerdings darauf hinweisen, dass die Trennung von Kirche und Staat endlich vollzogen werden muss.
Als sich Femen im Jahr 2008 in Kiew gründeten, ging es zunächst vor allem darum, gegen Sextourismus und Zuhälterei in ihrer ukrainischen Heimat anzugehen. Zunächst provozierten die Femen-Frauen noch in Unterwäsche, was als erotisches Spiel missverstanden wurde. Dann zog – am ukrainischen Unabhängigkeitstag im August 2009 – Mitgründerin Oksana Schatschko blank. Das Medienecho war so gewaltig, dass der nackte Oberkörper als Protestplakat Femen fortan als Erkennungsmerkmal diente. Die Brüste seien ihre Waffen, erklärten die Aktivistinnen. Angezogen interessierten ihre Botschaften nicht.
Zur Lady-Godiva-Legende gehört die Vereinbarung mit den Stadtbewohnern – für deren Rechte die Adelige ja schließlich eintrat – , dass sich während ihres unbekleideten Protestritts niemand auf den Straßen sehen lasse. Die Sittsamkeit lag gewissermaßen im Auge des Nichtbetrachters. Nur ein Schneider namens Tom habe einen Blick riskiert und wurde prompt mit Blindheit geschlagen. Aus ihm wurde der sprichwörtliche „Peeping Tom“, wie man in England den Voyeur nennt.
Busen bleibt gleich Busen
Heute sind wir alle Peeping Toms. Hinschauen ist Pflicht, wir haben Femen erfunden – und anfangs den Aktionen der fotogenen Feministinnen durchaus applaudiert, auch ihrer Courage angesichts eines zunehmend autoritäreren Regimes. Das änderte sich, als sich Femen europaweit verzweigte, als sie im Genre des Nacktprotests mit der Tierrechtsorganisation „Peta“ („Ich gehe lieber nackt, als dass ich Pelz trage“), mit nackten Fahrradtouren, ja mit jedem Popsternchen konkurrieren mussten. Auch Miley Cyrus behauptet, ihre Brustwarzen hätten eine Aussage.
Man konnte genau hinschauen. Dann erkannte man – etwa beim Femen-Protest auf dem Laufsteg von Heidi Klums „Top-Model“-Show – den Unterschied zwischen selbstbewussten Femen-Frauen und eingeschüchterten Casting-Show-Opfern. Aber auf der großen Oberfläche der Flachbildfernseher bleibt Busen gleich Busen.
Mit dem Dom-Altar als Bühne und Kardinal Meisner auf dem besten Zuschauerplatz hat Josephine Witt einen Ort gefunden, an denen der Femen-Protest auch im aufgeklärten Westen noch auffällt. Ein törichter Mann verabreichte ihr eine Ohrfeige. Aber die Botschaft drang kaum noch durch die Wand aus Entrüstung, Übersättigung und Genervtheit. Der Kardinal schloss die verunglückte Godiva prompt in seine Gebete ein. Das war die gelungenere Provokation.