Psychologin zum Schulwechsel„Kind soll ein Recht auf Misserfolg haben“
Köln/NRW – Annette Greiner ist Diplom-Psychologin und Vorstand im Landesverband Schulpsychologie NRW.
Frau Greiner, viele Eltern von Viertklässlern haben in diesen Tagen fast schlaflose Nächte, weil sie sich mit der Entscheidung, welche weiterführende Schule sie für ihr Kind auswählen sollen, schwertun. Warum ist die Entscheidung denn so schwer?
Weil das Thema „Zurechtkommen und Scheitern“ viel mehr im Vordergrund steht als in der Grundschule. Die ist entwicklungsoffen und es geht erst einmal nur darum, dass mein Kind in der Schule Fuß fasst. Bei der weiterführenden Schule stehen andere Fragen im Raum: Wozu ist mein Kind in der Lage? Welche Weichen stelle ich damit für die Zukunft? Dass Eltern bei solchen Fragen angespannt und ratlos sind, ist nachvollziehbar. Die Frage ist aber, wie gehe ich mit dieser Unsicherheit um?
Und wie sollten Eltern damit umgehen?
Am besten wäre es, wenn Eltern gemeinsam mit den Lehrern, die ihr Kind vier Jahre beobachtet haben, eine Entscheidung treffen. Wenn allerdings das Verhältnis von Eltern und Lehrer konfliktbeladen ist, gelingt es oft nicht, wirklich das Kind in den Mittelpunkt der Entscheidung zu stellen. Nicht zuletzt auch, wenn Eltern die Empfehlung der Schule als eine Art „Zeugnis für sich selbst“ empfinden. Waren wir als Eltern gut? Haben wir für unser Kind alles erreicht? Dann sind Eltern mit ihrem eigenen Scheitern und Traurigsein beschäftigt. Und in einer solchen Situation ist es schwer, den Blick auf das Kind zu behalten.
Wer hat denn in Sachen Schule den besseren Blick auf das Kind: Lehrer oder Eltern?
Da gibt es kein besser oder schlechter. Beide haben ganz unterschiedliche Perspektiven, aus denen heraus sie das Kind betrachten. Ein Lehrer hat das Kind in Lernsituationen beobachtet und kann daraus Schlüsse aufgrund der momentanen Entwicklung des Kindes ziehen. Aber ein Lehrer kann natürlich nicht weit in die Zukunft sehen. Er kann nicht voraussehen, ob ein Kind noch einen Entwicklungssprung macht oder in einer anderen Lernumgebung Fähigkeiten entwickelt. Aber er kann aufgrund seiner Beobachtungen ganz gut prognostizieren, wie schwierig es für das Kind auf einer bestimmten Schulform in den nächsten ein bis zwei Jahren in Bezug auf eine bestimmte Leistungsanforderung werden könnte und ob die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns hoch ist. Auch können Lehrer gut einschätzen, wie viel Unterstützung oder Mehranstrengung nötig sein wird.
Und die Eltern?
Sie müssen an dem Punkt für ihr Kind entscheiden, wie viel Mehranstrengung es verpacken kann. Das Kind, aber auch die Familie. Einem Kind ist definitiv nicht damit gedient, wenn sich die Familie komplett dem Thema Schule verschreibt. Das vergiftet das Familienleben und schadet den Kindern sehr. Im Leben eines Kindes muss es noch Freiräume für Dinge geben, die nichts mit Schule zu tun haben.
Offensichtlich schätzen aber viele Eltern es vollkommen falsch ein, wie viel Mehranstrengung ihre Kinder vertragen können. Nach aktuellen Zahlen hat die Zahl der Kinder, die das Gymnasium nach zwei Jahren wieder verlassen müssen, in den letzten fünf Jahren drastisch zugenommen…
Zunächst einmal: Wenn Kinder scheitern müssen, weil die Erwachsenen es nicht geschafft haben, das Kind in den Mittelpunkt ihrer Entscheidung zu stellen und sich mehr an ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen zur Zukunft ihres Kindes orientiert haben, ist das für Kinder wirklich bitter. Da nehmen Eltern in Kauf, dass ihre Kinder einen Schaden im Bereich der seelischen Gesundheit und des Selbstwertgefühls erleiden. Aber: Ein Kind soll in einem „gesunden Maß“ auch ein Recht auf Misserfolg haben!
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Ein Recht auf Misserfolg? Warum?
Vielen Kindern fehlt heute die Fähigkeit, Rückschläge zu verarbeiten und daraus auch eine Problemlösekompetenz zu entwickeln. Selbst ein Misserfolg bedeutet ja nicht automatisch, dass ein Kind auch seelisch zu Schaden kommt. Im Gegenteil: Wenn Kinder lernen, mit einer Grenzerfahrung gut umzugehen, ist das eine durchaus wichtige Erfahrung für die Persönlichkeitsentwicklung. Das Problem aber ist, dass in einer Gesellschaft, die immer alles hundertprozentig richtig machen will, aus einem schulischen Versagen von den Eltern oft ein Drama gemacht wird. Und das ist für die Kinder schlimm, wenn sie sehen, dass sie neben dem Misserfolg auch noch die „Verantwortung“ für das Traurigsein ihrer Eltern haben.
Selbst ohne Empfehlung sollte ein Kind die Chance haben, das Gymnasium „auszuprobieren“?
Nein, da muss man sich immer das einzelne Kind und die bisherige Schulsituation anschauen und abwägen: Wenn absehbar ist, dass ein Kind schon jetzt durch Schule eher belastet ist und eine Mehrbelastung wohl eher nicht verkraftet, dann ist es fahrlässig, ein Gymnasium „auszuprobieren“. Das Kind verpasst ja nichts. Man kann ja auch auf anderen Wegen das Abitur machen. Unser Schulsystem ist durchlässig und dann kann es, wenn es vielleicht den nötigen Entwicklungssprung gemacht hat und ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln konnte, später auf das Gymnasium oder Berufskolleg wechseln. Wenn ich ein robustes Kind habe, das vielleicht sein Potenzial einfach noch nicht ausgeschöpft hat, das in sich ruht und viele Quellen der Freude auch außerhalb der Schule hat, kann man z.B. das Risiko, es auch ohne uneingeschränkte Empfehlung aufs Gymnasium zu schicken, vielleicht in Kauf nehmen. Man sollte aber im Blick behalten, dass sich dann durchaus absehbare Misserfolge nicht negativ auf die seelische Verfassung des Kindes auswirken, es sich zum Beispiel zurückzieht, weil es sich schämt.
Und wie verhindert man das?
Wichtig ist, dass man einen Misserfolg wahrnimmt und daraus die richtigen Schlüsse zieht. Wenn die ersten Arbeiten auf dem Gymnasium schlecht sind, muss das nicht zwingend heißen, dass man ein unüberwindbares Problem hat. Dann muss man schauen, welche Angebote können Schule und Eltern machen, damit man diese schwierige Phase überwindet. Allerdings – und davor warnen wir – wenn ein Kind dauerhaft Nachhilfe braucht und all seine anderen Interessen zurückstecken muss, dann schadet das dem Kind. Dann nämlich befindet sich das Kind eher an einer Grenze, die es durch vertretbare Anstrengung im Moment nicht überwinden kann. Und die Eltern und Kind akzeptieren sollten.
Und dann?
Wichtig ist, dass Eltern ihr Kind weiter in seiner Persönlichkeit mit all seinen Stärken sehen und das dem Kind auch spiegeln und ihm vermitteln: Gemeinsam finden wir einen Weg, der zu dir passt – und der auch zum Ziel führen kann.
Das ist aber gar nicht so einfach. Viele Eltern berichten, dass die Suche nach einer neuen Schule sehr mühsam war…
Eltern müssen bei der Entscheidung für die weiterführende Schule Weitblick und einen Plan B haben. Sonst haben sie tatsächlich ein zusätzliches Problem. Ich denke es muss den Eltern viel mehr klargemacht werden, dass es nach einem Misserfolg in der Erprobungsstufe – je nachdem, wo man wohnt – sehr schwer werden kann, eine neue Schule zu finden. Deshalb ist wichtig, diesen Plan schon vorher durchzuspielen und das in die Entscheidung mit einzubeziehen.
Und wenn der Schulwechsel dann tatsächlich ansteht…
… sind auch die neuen Schulen in der Pflicht, sich auf die besondere Situation des Kindes einzustellen und dafür zu sorgen, dass es dort auch eine neue Chance für sich entdeckt und Freude am Lernen zurückgewinnt. Eltern können ihrerseits dem Kind vermitteln, dass sie zuversichtlich sind, dass es die neuen Herausforderungen meistert und an der neuen Schule die Gelegenheit hat zu zeigen, was in ihm steckt. Ganz praktisch können sie z.B. neue Freundschaften unterstützen und sich in der neuen Schule engagieren.
Das Gespräch führte Angela Horstmann