Der ukrainische Regisseur Andriy May musste wegen des russischen Angriffskrieges aus Cherson fliehen. Sein Stück „Putinprozess“ zeigt mit einem deutsch-ukrainischen Ensemble die Auswirkungen des Krieges.
„Putinprozess“ im TheaterDie eigene Haltung zur totalitären Bedrohung
Nein, dem obersten Kriegsherrn aus dem Kreml wird hier nicht der Prozess gemacht, auch wenn der Titel „Putinprozess“ solche Erwartungen beim Publikum evozieren mag. Dem ukrainischen Regisseur Andriy May geht es bei dieser ukrainisch-deutschen Produktion des Theaters der Keller vielmehr darum, die Zuschauer zum Nachdenken einzuladen.
Die Tanzfaktur gibt dem Stück eine Bunkeratmosphäre
Nachdenken darüber, wie jeder einzelne im Laufe der Zeit auf die politische Entwicklung in Russland reagiert hat, die spätestens seit 2014 in den Krieg führte. Schauplatz dieses biografischen Theaters ist die Probebühne in der Tanzfaktur. Roh und provisorisch wirkt dieser Aufführungsort. Mit seinen nackten Betonsäulen und den tiefen Kellerdecken ähnelt er wohl den vielen Kellerräumen, in denen die Menschen in der Ukraine vor den Luftangriffen der Russen Zuflucht suchen.
Hier an diesem etwas unwirklichen Ort begeben sich die drei Darsteller Tetiana Zigura, Andriy May und Timon Ballenberger auf die Suche nach Selbstvergewisserung und der eigenen Identität. Es sind ganz persönliche Wahrnehmungsprozesse, die aber vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges zu einem politischen Akt werden. Der Prozess beginnt für alle drei mit einer Häutung. Die Alltagskleider werden gegen Surfanzüge getauscht. Wogende Wellen, im Hintergrund auf Leinwände projiziert, machen deutlich, dass sich die Akteure auf unsicherem Terrain bewegen.
Die Schauspieler erzählen auf der Bühne ihre persönlichen Geschichten
Der Verweis auf die jeweils biografischen Wurzeln soll Stabilität bringen und verdeutlichen, dass die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte in den Prozess miteinfließen. Der deutsche Schauspieler Timo Ballenberg lebte als Achtjähriger in Brunsbüttel, als Putin vor 22 Jahren die Regierungsgeschäfte in Russland übernahm. Sein moralischer Kompass war von religiösen Maßstäben bestimmt, bis sich im Erwachsenenalter seine Wertevorstellungen säkularisierten.
Die Perfomerin und Sängerin Tetiana Zigura erzählt, wie sie bei Auftritten in China erklären muss, dass die Ukraine kein Teil von Russland, sondern eine eigene Nation ist. Die Nachlässigkeit, wie vielerorts der Vielvölker- und Nationenstaat der Sowjetunion mit Russland gleich gesetzt wurde und wird, ist für den aus Cherson stammenden Regisseur Andriy May sicherlich einer der wesentlichen Gründe, die Russlands Kriegspolitik beflügelt haben.
Andriy May musste Cherson wegen des russischen Angriffs verlassen
An der Biografie des Ukrainers werden die Brüche und Umbrüche seines Landes und die Konflikte mit dem mächtigen Nachbarn im Osten besonders deutlich. Als Vater eines achtjährigen Jungen, den er nach dem Krebstod der Mutter alleine erzieht und Sohn einer pflegebedürftigen Mutter konnte er im März auf dramatische Weise das von den Russen besetzte Cherson verlassen und aus der Ukraine nach Deutschland ausreisen.
May, dessen Nachname sich vom deutschen Mai ableitet, erzählt, wie der Grabstein seines deutschstämmigen Urgroßvaters von den Besatzern mit der Aufschrift „Faschist“ besudelt wurde, während auf dem Grabstein des Großvaters mütterlicherseits der rote Stern davon kündigt, dass der Tote im Zweiten Weltkrieg als Mitglied der Roten Armee im Kampf gegen die Nazis gefallen ist.
Das Theaterstück wird zum Appell
Die Trennungslinien der eigenen Identität manifestieren sich bei ihm, wie bei vielen Ukrainern, auch im Umgang mit der Sprache. Die russische Sprache, mit der er als junger Bürger der Sowjetunion aufgewachsen ist, hatte spätestens mit dem Maidan 2013 ihre Unschuld verloren. Gänzlich abgelegt hat er sie, als im Februar der Überfall erfolgte. Eine traumatische Zäsur, die nicht zuletzt auch in Stücken wie diesem auf künstlerischen Wegen bewältigt werden will.
Dabei beschreiten der Regisseur und seine Dramaturgin Ulrike Janssen verschlungene, spielerische Pfade, die im Privaten das Politische sichtbar machen. Etwa wenn Tetiana Zigura auf der Bühne Ballett tanzt, sich aber auf den Leinwänden dahinter im Ensemble tanzende Balletttänzerinnen mit Aufnahmen von russischen Soldaten beim Exerzieren abwechseln.
Präzision und Disziplin, die vielbeschworenen Tugenden des russischen Balletts, erscheinen hier als kulturelle Insignien einer totalitären Großmacht. Manche der sich in loser Folge rasch abwechselnden Szenen sind plakativ und pointiert zugleich. Die für die Ukrainer existentielle Aufgabe, sich einer totalitären Bedrohung zu erwehren, wird hier im Stück auch zum Appell, die eigene Haltung zu und den Umgang mit solchen totalitären Systemen zu hinterfragen.
Weitere Aufführungen: 3.12., 20 Uhr, 4.12. 18 Uhr, 16.12., 20 Uhr, 18.12., 19 Uhr, Theater der Keller in der Tanzfaktur.