Richard David Precht„Menschen lieben Verbote – aber nicht beim Klimawandel”
- Der Philosoph Richard David Precht sollte ursprünglich beim Kölner Literaturfestival lit.Cologne auftreten, das wegen der Corona-Krise abgesagt wurde.
- Im Interview spricht er über seinen Eindruck, dass die Menschen in Zeiten des Coronavirus dankbar über Verbote sind.
- Er bedauert aber, dass Verbote in Bezug auf den Klimawandel kaum ausgesprochen werden, obwohl von ihm ebenfalls große Gefahr ausgeht.
Herr Precht, wie beurteilen Sie die Absage der lit.Cologne und die aktuelle Lage? Gibt es einen rationalen Kern für die überall einsetzenden Vorsichtsmaßnahmen?
Ich habe in der vergangenen Zeit mehrfach öffentlich betont, dass Menschen Verbote lieben. Was die ökologische Bedrohung dieses Planeten angeht, kommen wir ohne klare Regeln und Verbote nicht aus. Daraufhin bekam ich sehr viel Gegenwind. Es geht um das Überleben der Menschheit, aber viele Leute sind nicht einmal bereit, auf die Plastiktüte zu verzichten. Und dann kommt das Coronavirus und ich sehe, wie dankbar Menschen für Sicherheitsmaßnahmen, Vorsorge, Verbote und Schutz sind. Hier geht es zunächst ums eigene Überleben, das ist klar. Aber der Transfer zum Überleben der Menschheit kann eigentlich nicht so schwer sein.
Sie sehen da keine Gefahr?
Natürlich sehe ich die, aber es ist nicht meine Aufgabe, sie genau zu beurteilen, ich bin kein Arzt.
Sie haben den dritten Teil Ihrer Geschichte der Philosophie vorgelegt, „Sei Du selbst“. Sie arbeiten sich damit durch die Zeiten – hat sich Ihre Sicht auf Philosophie dabei verändert?
Die Sicht auf die Philosophie hat sich nicht verändert, aber das Schöne an der Philosophiegeschichte ist, dass man gezwungen wird, sich mit dem ein oder anderen Philosophen näher zu beschäftigen, der einem bislang ferner lag – Auguste Comte wäre so ein Beispiel. Dessen Namen habe ich während meines gesamten Studiums nie gehört, er war aber ein sehr bedeutender Mann in seiner Zeit.
Sie sind im 19. Jahrhundert angekommen. Was charakterisiert dieses Jahrhundert?
Es ist insofern ein bemerkenswertes Jahrhundert, als es das einzige ist, in dem sich die Bevölkerung in Europa mehr als verdoppelt. Das ist eine Folge des technischen Fortschritts. Das 19. Jahrhundert verarbeitet die erste industrielle Revolution, und das ist deswegen so spannend, weil es so viele Parallelen zu heute gibt: Wir müssen nun den Aufbruch ins Zeitalter der vollautomatisierten Maschinen verarbeiten. Wir stehen vor ähnlich großen Umbrüchen, und eine weitere Parallele besteht darin, dass man damals sehr sehr mühselig und gegen den Widerstand der Fabrikherren lernen musste, die Arbeiter vernünftig zu bezahlen und ein Sozialsystem aufzubauen – die Transformation vom Manchester-Kapitalismus zur sozialen Marktwirtschaft. Auch heute stehen wir vor einer solchen Herkulesaufgabe, nämlich der Transformation von der sozialen Marktwirtschaft in eine nachhaltige Wirtschaft.
Philosophisch gesehen, war das 19. Jahrhundert dasjenige der großen gesellschaftlichen Entwürfe. Die fehlen heute.
Das ist wohl wahr. Das 19. Jahrhundert glaubte noch, dass Philosophen mit gesellschaftlichen Entwürfen die Welt verändern können. Dieser Glaube ist den allermeisten Philosophen der Gegenwart abhanden gekommen. Das 19. Jahrhundert war darüber hinaus die große Zeit der Naturwissenschaften, die der Philosophie Konkurrenz machten. Sie haben das Feld der Philosophie immer weiter beschnitten. Die Philosophie trennte sich von der Theologie, das geschah bereits im 18. Jahrhundert – das war ein Emanzipationsprozess der Philosophie von der Theologie als der alles beherrschenden Wissenschaft. Dafür muss sie im 19. Jahrhundert die Soziologie gehen lassen, und auch die Psychologie kommt ihr abhanden. Im 20. Jahrhundert radikalisiert sich diese Entwicklung. Und wenn man sich heute fragt, was denn eigentlich noch Philosophie ist, dann würde man, die Philosophiehistoriker und Spezialisten für ganz bestimmte Philosophen einmal ausgenommen, überwiegend auf analytische Philosophen stoßen. Das, womit sich Philosophen vorrangig beschäftigen, ist Sprachlogik.
Zur Person
Richard David Precht, geboren am 8. Dezember 1964 in Solingen, ist Philosoph und Publizist, dazu Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität in Lüneburg; außerdem Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hans Eisler in Berlin.
Seine Bücher sind Bestseller und erschienen in über 40 Sprachen. Seit 2012 moderiert Precht die Sendung „Precht“ im ZDF. Er ist geschieden und Vater eines Sohnes. (ksta)
Was bedeutet das für die Philosophie?
Wir sind Zeugen eines Prozesses der Selbstverzwergung. Der ist extrem, und der tut der Philosophie nicht gut. Je spezialisierter die Philosophie, umso geringer ist ihr gesellschaftlicher Einfluss.
Das heißt, die Philosophie ist in den Universitäten und Seminaren verschwunden.
Ja, sie ist ein »Fach« geworden, das ist das Schlimmste, was ihr passieren konnte. Die Philosophie war in der Vorstellung von Kant über den Fakultäten angesiedelt. Sie war die Supervisor-Disziplin, so haben das auch noch viele Philosophen im 19. Jahrhundert gesehen. Und heute ist sie eine kleine Spezialwissenschaft, die kaum jemand braucht. Dabei ist es nicht so, dass nicht gerade unter den jüngeren Philosophen in Deutschland eine ziemlich große Unzufriedenheit herrschte und man sich nicht überlegte, ob man die Philosophie nicht mehr oder weniger neu erfinden müsste im Rückblick auf frühere Bedeutung und im Hinblick auf künftige gesellschaftliche Aufgaben.
War der Rückzug auf die Sprachphilosophie eine Reaktion darauf, der Philosophie die Wissenschaftlichkeit abzusprechen? Nach dem Motto: Wir können es doch!
Das beginnt ebenfalls bereits im 19. Jahrhundert: Als wissenschaftlich galt, was naturwissenschaftlich war. Damit als Philosoph umzugehen, stellt einen vor verschiedene Möglichkeiten. Die eine besteht darin, die Philosophie zu verwissenschaftlichen – da bleibt dann aber nicht mehr viel übrig. Die andere Möglichkeit ist zu sagen: Philosophie ist gar keine Wissenschaft. Das ist der Weg, den die Existenzphilosophie gegangen ist. Kierkegaard, Schopenhauer, Nietzsche, später kommt Heidegger hinzu. Von dieser Position aus bedeutet es, die Philosophie viel zu klein zu machen, würde man sie als Wissenschaft betrachten. Philosophie ist vielmehr eine Haltung zum Leben, sie ist das Reflexionsmedium des Menschen schlechthin.
Wie ist Ihre Haltung?
Ich teile diese Sicht. Um ein Beispiel zu nennen: Im Mai erscheint mein neues Buch zur Künstlichen Intelligenz. Es ist ganz bewusst ein philosophisches Buch und kein wissenschaftliches. Ich bin froh, dass ich ein Philosoph bin und kein Wissenschaftler, der seine Thesen mit irgendwelchen empirischen Studien, hunderten von Spezialbegriffen und vermeintlich wissenschaftlichen Diagrammen belegen muss. Das, was Gesellschaftswissenschaftler zum Thema zu sagen haben gleicht zu oft der Arbeit von Versicherungsangestellten, die Kurven malen und potenzielle Schadensfälle berechnen.
Eine Ihrer Hauptthesen ist, dass die Welt zersplittert ist, fragmentiert, nicht allein die äußere Welt, auch die Struktur der Persönlichkeit. Kann Philosophie überhaupt noch einen Zusammenhang herstellen, kann sie gar sinnstiftend wirken?
Mit Sinn muss man vorsichtig sein. Philosophie kann sicherlich helfen, das eigene Denken zu schulen. Ein Sinn der Beschäftigung mit Philosophiegeschichte liegt nicht zuletzt darin zu erkennen, dass 1000 Gedanken, die man für seine eigenen hielt, längst gedacht wurden. Man kann sie aber in eine neue und andere Ordnung bringen, man kann sich selber aufräumen und lernen strukturierter nachzudenken. Dazu kann Philosophie sicherlich einen guten Beitrag leisten. Ob das sinnstiftend ist oder nicht, sei dahingestellt.