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ZungenmundWas eine indische Göttin mit dem Logo der Rolling Stones zu tun hat

Lesezeit 4 Minuten
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London – John Pasche, Magister-Student am Londoner Royal College of Art, hatte bereits erfolglos mehrere Entwürfe für ein Poster zur 1970er-Europatour der Rolling Stones eingereicht, als Mick Jagger bei einem Tête-à-Tête endlich damit herausrückte, was er wirklich von dem jungen Designer wollte: ein Band-Logo von derart schlagender Einfachheit, dass es für sich allein stehen könnte – und doch die ganze Geschichte erzählte. Wie die Shell-Muschel.

Zu ihrem Treffen hatte der Rockstar ein Bild der indischen Göttin Kali mitgebracht, er hatte es in einem kleinen Laden in der Nähe seines Hauses in Chelsea entdeckt und für das Treffen ausgeliehen. Auf dem Bild streckte die blauhäutige Göttin des Todes und der Zerstörung dem Betrachter ihre blutrote Zunge entgegen. Als Kali, erzählt die Legende, auf einem Schlachtfeld im Blutrausch auf den Leichen ihrer dahingemetzelten Feinde tanzte, legte sich ihr Gatte Shiva inmitten der toten Körper, um Kalis Rasen Einhalt zu gebieten.

In dem Moment, in dem der Göttin bewusst wurde, dass es ihr eigener Mann war, den sie gerade mit ihren Füßen bearbeitete, soll sie aus Schreck und Scham ihre Zunge herausgestreckt haben.

Diffus indisch

Mick Jagger schwebte wohl etwas diffus Indisches für das Band-Logo vor, London taumelte noch in den Schwingungen der Sitar und den Patschulischwaden der Räucherstäbchen. Doch der 24-jährige Pasche beschloss vorausschauend, Mund und Zunge der Göttin jedweder orientalistischen Konnotation zu entkleiden. Schließlich sollte das Logo allen Modewechseln standhalten.

Er dachte bei der herausgestreckten Zunge vielmehr an die Trotzgeste eines Kindes, und naturgemäß auch an das sexuelle Versprechen verspielter Zungen und voller Lippen. Zusammen ergeben sie die Essenz ebenjener zutiefst narzisstischen Rock-Rebellion, welche die Rolling Stones sowohl verkörperten als auch gewinnbringend verkauften.

Mick Jagger übersehen

Was Pasche in seinem Logo nicht sah, war das, was er direkt vor Augen hatte und was später alle anderen in seinem Logo erkennen sollten: Den übergroßen Mund und die provokante Zunge des erotomanen Schreihalses Mick Jagger.

Seine heute bekannte Form bekam das „Tongue and Lips Logo“ allerdings erst, als der New Yorker Art Director Craig Braun es für „Sticky Fingers“, das triumphal-kaputte 1971er-Album der Rolling Stones, verwenden wollte.

Schimmerndes Hellrot

Es war das erste Mal, dass es das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollte. Braun zeichnete die grobkörnige Schwarz-Weiß-Kopie, die ihm Pasche per Fax hatte zukommen lassen (Fernkopierer nannte man das damals), noch einmal neu. Er umrandete das Logo mit schwarzem Strich, von dem sich das satte Hellrot nun umso schimmernder abhob. Er fügte noch ein weiteres, gleißendes Highlight auf dem Zungenrücken hinzu.

Heraus kam so ein echtes Stück Pop-Art. Da muss es nicht verwundern, dass viele Betrachter irrtümlich Andy Warhol für den Schöpfer des Zungenmundes hielten. Analog zur ikonischen, schälbaren Banane, die der Pop-Pate vier Jahre zuvor für das Cover des Debütalbums von The Velvet Underground & Nico angefertigt hatte.

Hinterm Reißverschluss

Von Warhol stammte indes nur die Idee zum sexuell suggestiven Cover von „Sticky Fingers“. Das zeigt bekanntlich den Schritt einer Jeans, deren Denim-Stoff von einem männlichen Geschlechtsteil nicht unbeträchtlicher Größe ausgebeult wird. Der funktionierende Reißverschluss musste in jedes Cover von Hand eingenäht werden. Er galt auch deshalb als berüchtigt, weil sein Schiebergriff im ungeöffneten Zustand das Vinyl darunter beschädigte.

John Pasches Logo findet sich – nur anderthalb Zentimeter groß – rechts unten auf der Rückseite des Covers. Es ist sein erster Auftritt in der Öffentlichkeit, und er fällt denkbar bescheiden aus. Aber folgenreich.

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Genau 50 Jahre sind seither vergangen. Noch immer gilt der Zungenmund als das beste und bekannteste aller Bandlogos. Weder die gespaltenen Pillen-„O“ im Schriftzug der Doors, noch der achtzackige Asterisk der Red Hot Chili Peppers oder das zum Adler stilisierte „W“ des Wu-Tang Clan können da mithalten. Die „Hot Lips“ konkurrieren eher mit Markenzeichen wie Mercedes-Stern, McDonald’s-Bögen oder Nike-Swoosh.

John Pasche, der für seine Arbeit von den Rolling Stones ursprünglich mit gerade mal 50 britischen Pfund entlohnt wurde, verkaufte sein unbearbeitetes Original-Design 2008 an das Londoner Victoria & Albert Museum, für fast 100 000 Pfund.

Ihm bleibt die Genugtuung, eine Ikone geschaffen zu haben, die bis heute auf mehr T-Shirts die kapitalistische Totalvereinnahmung der Revolution verkündet als die Umrisszeichnung von Che Guevara: (Auf-)begehren und Ausverkauf in einem Zeichen.