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Roman-Epos „Die Projektoren“Wie Clemens Meyer mit Karl May das kaputte Europa erkundet

Lesezeit 4 Minuten
22.08.2024, Sachsen, Leipzig: Der Schriftsteller Clemens Meyer spiegelt sich in einer Fensterscheibe. In seinem neuen Roman ·Die Projektoren· nimmt Meyer auf rund 1000 Seiten seine Leserinnen und Leser mit in die deutsche und europäische - speziell jugoslawische - Vergangenheit und Gegenwart. Das ambitionierte Werk steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

Der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer

Clemens Meyers „Die Projektoren“ ist das Buch des Jahres. Am 1. Oktober liest der Autor im Kölner Literaturhaus.

Nie dürfen wir vergessen, dass wir nicht auf der Erde, sondern in der Hölle leben, schrieb Karl May wenige Jahre vor seinem Tod aus der Villa Shatterhand an einen Freund. Der Leipziger Autor Clemens Meyer hat in seinem neuen Roman „Die Projektoren“ ausgerechnet den hochstapelnden Indianerfreund in der Rolle eines Vergil besetzt, der den Erzähler hinab durch alle neun Kreise der Hölle führt. Den Eingang zur Unterwelt findet er im Velebit, jenem höhlendurchwirkten Gebirgszug an der kroatischen Küste, der in den 1960er Jahren als Drehort für zahlreiche Karl-May-Verfilmungen mit Pierre Brice und Lex Barker diente.

Wenn dieses 1042 Seiten umfassende, gewaltig mäandernde und gefräßig wie Moby Dick alles in sich aufnehmende Werk einen Kern hat, dann findet er sich hier, im Velebit, wo im Zweiten Weltkrieg die faschistischen Ustascha als örtliche Vertreter der deutschen Eroberer und Mörder wüteten. Wo diese Deutschen schon 20 Jahre später mit Sack und Pack wiederkamen, diesmal allerdings mit Platzpatronen und Pistolen aus Blech, um Abenteuer-Kintopp frei nach den Geschichten des sächsischen Fantasten zu drehen. Und wo die einstigen Filmstatisten der Sozialistische Föderativen Republik Jugoslawien sich 30 Jahre später als Serben und Kroaten gegenüberstehen, mit scharfen Waffen und genozidalen Absichten.

Clemens Meyer hat ein Kriegsepos ohne Schlachtbeschreibungen geschrieben

„Die Projektoren“ ist ein Kriegsroman ohne große Schlachtbeschreibungen, vielleicht eher ein Roman, der vom Krieg und seinen vergifteten Erzählungen durchwirkt ist, nie befindet man sich nur auf einer Zeitebene, immerzu bricht die Vergangenheit durch wie ein unbehandeltes Trauma, leuchten die Konsequenzen der Gewalt und ihrer fehlenden Aufarbeitung den Protagonisten aus der Zukunft heim. Die Lösung der Geheimnisse könnte sich in einem „Bioskop“ in Zagreb verbergen, wie dort das Kino heißt, oder in einer Nervenheilanstalt in Leipzig-Thonberg, die einst auch den selbsternannten Dr. May beherbergte und nun einen seltsamen Irren, der von den Ärzten „der Fragmentarist“ genannt wird und wie eine Kassandra künftiges Leid vorausahnen kann.

Handelnde Personen begegnen uns viele auf allen Seiten der hoffnungslos ineinander verwobenen Konflikte, vom jugoslawischen Monarchisten bis zum westdeutschen Neonazi. Sie sind keine hochtrabend hochmoralischen Helden wie bei Karl May, doch Clemens Meyer durchdringt sie psychologisch, bringt sie alle zum Schillern, zwingt mit seiner überwältigenden, bitterbösen, letztlich jedoch radikal humanistischen Erzählkunst uns Lesende dazu, die Verhältnisse aus Perspektiven zu betrachten, vor denen wir sonst nur allzu gerne die Augen verschließen.

Man tut gut daran – will man sich in diesem Dickicht aus bösen Ideologien und besten Absichten nicht verlaufen – sich an jenen Fremden zu halten, der irgendwann aus dem Nichts im Velebit auftaucht, sich in der halbverfallenen Hütte eines schwachsinnigen (vielleicht aber auch nur sehr gewitzten) Schäfers einnistet und den die Menschen im nahen Dorf den Cowboy taufen, weil er um den Hals ein im Nacken zusammengebundenes Tuch trägt, wie John Wayne. Der Cowboy ist, anders als es sein Spitzname vermuten lässt, keine bloße Chiffre, wenn er will, kann Meyer erzählen wie Tolstoi. Wir erfahren genau, wo der Fremde herkommt, was ihn als Kind geprägt hat und immer noch antreibt.

Dennoch ist er zugleich ein von den Umständen Getriebener, eine Kugel im Flipper des 20. Jahrhunderts, ein Geist der Geschichte: Todesmutiger Meldegänger von Titos Partisanen und angeblicher Verräter an dessen Idee vom blockfreien Sozialismus, vergeblich Liebender und abwesender Vater, Kinofan und Autor von Groschenromanen. Er dolmetscht am Lagerfeuer am Ufer der Plitvicer Seen zwischen den jugoslawischen Indianern, ihrem französischen Häuptling und seinem Blutbruder aus Hollywood – Lex Barker wird von Meyer stets nur LEX geschrieben und als mythische Figur, eine Art ewiger Krieger überhöht. Später kehrt auch der Cowboy als Offizier an den einstigen Drehort zurück, ein unfreiwilliger Höllenhund aus den Alpträumen Karl Mays. Am Ende finden wir ihn als Projektionisten eines Wanderkinos wieder, mitten im ehemaligen Kalifat des Islamischen Staats.

Gibt es gute und schlechte Projektionen? Was unterscheidet die May'sche Fabelwelt von Fake News? Speisen sich die Kunst, die uns mit anderen Augen schauen lässt und die Erzählungen von großen Nationen und auserwählten Völkern, die uns auseinandertreiben, aus derselben Quelle? Große Fragen, großes Buch, ein Epos, wie es nur alle Jahrzehnte erscheint.


Clemens Meyer, Jahrgang 1977, ist 2006 mit seinem autobiografisch geprägten Debütroman „Als wir träumten“ bekannt geworden. Darin geht es um eine Gruppe junger Männer, die zwischen 1985 und 1995 in Leipzig eine Jugend zwischen Gewalt, Drogen und Vandalismus erlebt. Auch der neue Roman, sein erster seit zehn Jahren, spielt in Teilen in der Stadt, in der Meyer schon immer zu Hause ist. „Die Projektoren“ steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Am 1. Oktober liest Meyer im Kölner Literaturhaus, 19.30 Uhr, 12 Euro, erm. 10 Euro

Clemens Meyer: „Die Projektoren“, S. Fischer, 1056 Seiten, 36 Euro.