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Sachbuch über SinneWie Kraken, Hunde und Buckelzirpen die Welt wahrnehmen

Lesezeit 3 Minuten
Die Krake "Otto von Unten" ist am 01.03.2017 in Timmendorfer Strand (Schleswig-Holstein) in der neuen Oktopoden-Themenwelt "Oktopus Höhle" in ihrem Aquarium zu sehen. Foto: Markus Scholz/dpa ++ +++ dpa-Bildfunk +++

Ein Krake in einem Aquarium am Timmendorfer Strand

Der Wissenschaftsjournalist Ed Yong entführt uns in „Die erstaunlichen Sinne der Tiere“ in faszinierend fremde Lebenswelten. Ein Buch, das die Welt reicher erscheinen lässt.

Ein gutes populärwissenschaftliches Buch vermittelt dem Laien den aktuellen Wissensstand auf einem Gebiet, das ihm sonst verschlossen bliebe. Ein besseres erzählt dazu von den langen, oft mühsamen Wegen (und Umwegen) zum Gewussten. Ed Yongs „Die erstaunlichen Sinne der Tiere“ leistet noch ein wenig mehr.

Das Sachbuch, gerade von der „New York Times“ zu einer der zehn wichtigsten Veröffentlichungen des vergangenen Jahres erklärt, eröffnet dem Leser eine Vielzahl unbekannter Welten – und führt ihn zugleich an einen Abgrund des Unwissens: Werden wir jemals wissen, wie es ist, ein Krake zu sein, eine Fledermaus, oder wenigstens ein Hund?

„Zumindest wissen wir“, fasst Yong am Ende seiner Rundreise durch die Sinne zusammen, „dass es Kraken gibt und dass ihre Erlebnisse sich von unseren unterscheiden.“ Weshalb wir, im Gegensatz zu unseren Mitbewohnern auf der Erde, uns wenigstens darum bemühen können, schreibt Yong, in deren Welten einzutreten.

Jakob von Uexküll prägte den Begriff der „Umwelt“

Für diese tierischen Sinnesblasen hatte der deutschbaltische Biologe Jakob von Uexküll 1908 in seinem Buch „Umwelt und Innenwelt der Tiere“ den heute alltagssprachlichen Begriff der „Umwelt“ geprägt, Yong benutzt das Wort auch in der englischsprachigen Originalausgabe. Gemeint ist nicht der Lebensraum einer bestimmten Spezies, den bezeichnet von Uexküll als „Umgebung“, sondern die Wahrnehmungswelt des Tieres: Seine Umwelt ist das, was es mit seinen Sinnen erfassen kann.

Und die wahre Entdeckungsreise besteht, frei nach Marcel Proust, nicht in der Suche nach neuen Landschaften, sondern im Versuch, mit anderen Augen zu sehen. Genau darum bemüht sich auch Ed Yong, der zuletzt für seine Pandemieberichterstattung im US-Magazin „The Atlantic“ mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde. Er beschreibt anhand der unterschiedlichen Sinne (es sind mehr als die aristotelischen fünf) die vielgestaltigen und schockierend fremden Umwelten der Fauna:

  1. Buckelzirpen, eine Unterart der Zikaden, kommunizieren untereinander, in dem sie über die Blätter, auf denen sie stehen, Vibrationen aussenden
  2. Kupferkopfschlangen riechen, in dem sie ihre gespaltene Zunge rotieren lassen und so Duftstoffe ansaugen
  3. Springspinnen verfolgen ihre Beute mit acht Augen – die einen beweglich, scharf fokussierend, aber mit engem Blickfeld, die anderen erfassen unbeweglich, aber mit weitem Gesichtsfeld, vor allem Bewegungen
  4. Welse, so Yong, sind schwimmende Zungen, deren Geschmacksknospen über ihren gesamten Körper verteilt sind: Leckte man – rein hypothetisch – an einem Wels, würden sich Fisch und Mensch gegenseitig schmecken
  5. der Sternmull – „ein hamstergroßes Tier mit seidigem Fell, Rattenschwanz und schaufelförmigen Pfoten“ – tastet sich mit den fingerähnlichen Anhängen seiner Schnauze im Untergrund voran

Nur fünf von etlichen Beispielen ungewohnter Umwelten, die Yong anhand der jeweils neuesten Forschungsergebnisse (allein die Bibliografie umfasst 56 Seiten) und vieler Besuche im Labor und im Feld zusammengetragen hat – er lässt sich im Dienst der Wissenschaft von Mücken zerstechen und Fischen elektrisieren. Und es sind noch nicht einmal die exotischsten Beispiele, wie die Echolokation, die Fledermäuse, Delfine, und sogar manche blinde Menschen anwenden. Und auch Ihren Hund werden Sie nach der Lektüre völlig anders anschauen.

„Die erstaunlichen Sinne der Tiere“ erschöpft sich jedoch nicht in der reinen Aufzählung seltsamer Sinnesblasen, immer wieder führt der Perspektivenwechsel den Autor zu überraschenden Erkenntnissen.

Warum Schönheit aus dem Auge erwächst

Wie etwa dieser, ausgehend von der Tatsache, dass sich das trichromatische Sehen von Insekten – in Grün, Blau und UV – Hunderte von Jahrmillionen vor den ersten Blüten entwickelt hat, die mit ihren Farben solche Bestäuber anlocken: „Augen sind von der Evolution gelenkte lebende Malerpinsel. Blumen, Frösche, Fische, Vogelfedern und Früchte – sie alle zeigen, dass das Sehen Auswirkungen auf das Gesehene hat und dass vieles, was wir in der Natur schön finden, durch das Sehvermögen unserer Mitgeschöpfe geprägt wurde. Schönheit liegt nicht nur im Auge des Betrachters. Sie erwächst aus diesem Auge.“

Sinne erschaffen Welten und die Erde beherbergt Millionen von ihnen. Dass viele dieser Welten nach menschlichem Dafürhalten beinahe außerirdisch wirken, zeigt nur das Ausmaß unseres Unwissens. Ed Yong hat es ausgelotet, mit einem Buch, in dem selbst die Fußnoten ein Lesevergnügen sind. Er schließt mit einem Appell zur Rücksichtnahme. Zum menschengemachten Massenaussterben der Arten gehört auch die Licht- und Lärmverschmutzung, die Tiere bedrohen, deren Umwelten wir lange ignoriert haben.

Das ist mit dem heutigen Wissen nicht länger möglich. Wir haben die Möglichkeit, andere Spezies zu verstehen, wir haben die Pflicht, sie zu schützen.

Ed Yong: „Die erstaunlichen Sinne der Tiere: Erkundungen einer unermesslichen Welt“, übersetzt von Sebastian Vogel, Verlag Antje Kunstmann, 448 Seiten, 34 Euro