Saft und Kraft für einen Neandertaler
Als „Neandertalismus“ qualifizierte Igor Strawinsky einst Carl Orffs „Carmina Burana“ – übersehend, dass der Kollege mehr als nur einen verstohlenen Blick in die Partitur von „Le sacre du printemps“ geworfen hatte. Beide Werke feiern auf sehr eigene Weise den orgiastisch aufbrechenden Frühling, und beide tun dies mit jener repetitiven Motorik, die gleichsam das fühlende Subjekt aus der Musik vertreibt.
Aber mögen auch die Singnoten der „Carmina“ und das herrschende Strophenprinzip primitiv anmuten – die Anforderungen, die das Stück an rhythmische Flexibilität und Präzision sowie an die körperhafte Realisierung der vertonten Sprache stellt, sind hoch. Werden sie nicht bedient, klingt es schnell langweilig und einfallslos.
Eine hohe Hürde war es also, die da die Kölner Kurrende – jahreszeitlich passend am 1. März und unterstützt durch zahlreichen familiär-freundschaftlichen Anhang im Publikum – anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens in der Philharmonie nehmen musste. Dirigent Michael Reif hatte sie um seinen „Europäischen Kammerchor“ verstärkt und den Kinderchor mit der Jungen Kantorei aus dem pfälzischen St. Martin besetzt. Gleich der Eingangschor („O Fortuna velut Luna“) zeigte, dass der Chor in Sachen genauer Konsonantenplatzierung gut gebimst worden war. Und auch der Versuchung, bei Orffs markierten Halben zu eilen, wurde professionell widerstanden. So ging es mit bemerkenswert fokussierender Schlagkraft und rhythmischem Puls, auch Sinn für Orffs exquisite harmonische Wirkungen (Quintparallelen!) weiter. Die heiklen Takt- und Tempowechsel waren ebenfalls kaum Stolpersteine, da vermochte sich schon eine gepflegte Rauschwirkung einzustellen.
Freilich ist 11 Uhr so oder so nicht die angenehmste Aufführungszeit für Choristen. Zu Beginn – auch in Alexander Borodins Polowetzer Tänzen – waren die Stimmen in Stütze und Intonation noch nicht vollends geweckt. Die Wiederholung des Eingangschors der „Carmina“ am Schluss geriet dann um einen Grad präsenter als die erste Version. Erfreulich die Solisten Thomas Laske (Bariton), Oscar de la Torre (Tenor, gewinnend humoristisch als gebratener Schwan) und Annabelle Heinen (Sopran), mit lyrischer Intensität in „In truitina“. Die Bochumer Symphoniker lieferten eine zuverlässige Unterstützung, einige solistische Leistungen (Flöte) seien hervorgehoben. (MaS)